Seelenangst
der Leibhaftige persönlich.« Er blätterte noch einmal durch die Fotos und verzog das Gesicht, als er die Detailaufnahmen vom Tatort betrachtete. »Die Bestialität seines Mordes zeigt eine klare Motivation, normale Mörder und deren Aggression weit hinter sich zu lassen.«
»Und diese Drachenskulptur, die im Rachen des Opfers gefunden wurde?«, fragte Clara.
»In der Heiligen Schrift ist der Drache fast immer eine Manifestation oder Allegorie des Bösen, des Satans. Es gibt die Schlange im Garten Eden, eine Abwandlung des Drachen, die Adam und Eva verführt und den Menschen dadurch die Rückkehr ins Paradies versperrt.«
Draußen zog der neugotische Turm einer Kirche vorüber, der sich in den grauschwarzen Himmel erhob.
»Ist der Mörder ein Satanist?«, fragte Clara.
MacDeath zuckte die Schultern. »Satanismus als Mordmotivation hat in unserer Zeit ein wenig nachgelassen, jedenfalls, wenn man den Presseberichten glauben darf. Aber das heißt nicht, dass es nicht wieder aufflackern könnte.« Er schaute auf einen Punkt in der Ferne. »Sie erinnern sich vielleicht an die Satanistenszene in Norwegen in den Neunzigerjahren. Die Kirchenverbrennungen, die Black Metal Bands, die sich teilweise gegenseitig erschossen oder enthauptet haben, weil sie meinten, die anderen wären nicht böse genug. Mayhem, Count Grishnakh, Euronymus, Enslaved, Emperor und wie sie alle hießen. Ich habe damals, noch von Quantico aus, die norwegische Polizei bei den Ermittlungen in einem satanischen Ritualmord beraten.« Er blickte Clara an. »Was haben wir in unserem Fall an Indizien? Wir haben den Bibelspruch und die Drachenskulptur. Außerdem die Tatwaffe. Das Schwert könnte eine symbolische Bedeutung haben. Ein weiteres Indiz sind Folter und Qual. Franco Gayo wurde nicht einfach getötet. Er sollte sein schreckliches Ende mitbekommen. Die Folter selbst kann Stunden, wenn nicht Tage gedauert haben.« Er blätterte durch seine Papiere. »Damals, in der Norwegian Task Force, haben wir einige Satanisten interviewt. Folter wird im Satanismus als Energietransfer gesehen. Je länger ein Mensch leidet, desto mehr Energie geht vom Opfer in den Täter über – jedenfalls glauben das die Satanisten. Und je länger die Qualen anhalten, desto leichter lässt sich die Energie aufnehmen, da sie nur in gebündelten, besser gesagt, verdaulichen Dosen übermittelt wird.«
Clara verzog das Gesicht. »Je länger sich das Opfer quält, desto länger gibt es Energie ab?«
MacDeath nickte. »Hinzu kommt, dass ein Opfer während der Folter leidet, dass es Schmerzen, Panik und Verzweiflung erfährt, bis am Ende die Hoffnung stirbt.«
Clara schwieg einen Moment. »Glaubt der Satanist, dass diese Energie, die er dann aufnimmt, ihn stärker macht?« Sie dachte an heidnische Stammesrituale, wo Kannibalen das Blut ihrer besiegten Opfer tranken und ihre Herzen aßen, um dadurch deren Kraft in sich aufzunehmen.
»Er glaubt, dass er mit den Energien zugleich die Seele des Opfers in sich aufnimmt. Deswegen nennt man solche Formen der rituellen Folterungen auch Seelenfresser .«
19
Er schaute in das Buch, das Grand Grimoire , das er sich eben gekauft hatte. Billig war es nicht gewesen, aber er brauchte es, deshalb stand der Preis nicht zur Debatte.
Sein Blick flog über die brüchigen Seiten, die Pentagramme und die Zeichen, während die U-Bahn sich durch das Erdreich bohrte wie ein gigantischer Wurm, der sich durch die Leiche eines Riesen frisst.
Das Reich der Toten , dachte er. Das Reich, das er beschwören wollte.
Die Menschen waren zu dem geworden, was sie sind, weil sie sich von Gott losgesagt hatten. Und hatte Gott es nicht so gewollt? Hatte er das Böse nicht absichtlich in die Welt gelassen? Er hatte Adam zur Sünde eingeladen durch Eva. Und dann kam der Tod in die Welt, der Tod und die Hölle. Der Baum der Erkenntnis war das Holz des Todes. Und dann kam dieser Jesus und machte alles wieder rückgängig, und das Holz des Kreuzes war das Holz des Lebens. Das behaupteten jedenfalls all diese Spinner, die noch nicht begriffen hatten, wer auf Erden wirklich das Sagen hatte. Der Herr dieser Welt, der Herr der Hölle. Satan, sein Herr und Meister, der Gott des Bösen und des Todes.
Die Bahn hielt an einer Station, und ein paar neue Fahrgäste stiegen ein. Dumme, naive Sterbliche , dachte er, nutzlose Verschwendung von Molekularmasse, einzig und allein dafür bestimmt, mit ihrem Blut als Opfer für etwas wahrhaft Großes zu dienen.
Denn hatte das
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