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Seelenangst

Seelenangst

Titel: Seelenangst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veit Etzold
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Richtung. Ronny konnte kaum sein Gesicht erkennen, als er sich ihm mit breitbeinigen Schritten näherte, während Timo an der Tür wartete und sich die Bahn rumpelnd in Bewegung setzte.
    »Ey«, sagte Ronny, »haste Zigaretten?«
    Der Mann bewegte sich keinen Millimeter.
    »Ey, Meister«, sagte Ronny noch einmal, »ich rede mit dir.«
    Jetzt dreht der Mann sich zu ihm um, und Ronny sah sein Gesicht. Die zusammengepressten Lippen, die hohlen Wangen und das undurchdringliche Schwarz einer Sonnenbrille, die an den Rändern geschlossen war.
    Der Mann gab ein leises Zischen von sich und näherte sein Gesicht dem Ronnys.
    In diesem Moment geschah es. Ronny hatte plötzlich Bilder vor Augen, wie er sie noch nie gesehen hatte. Er sah Blut und in Streifen geschnittenes Fleisch, sah aufgerissene Leiber, aus denen die Innereien quollen, sah Augenhöhlen, in denen abgetrennte Finger steckten, sah Dinge, die nicht zusammengehörten und die in einem dämonischen Crescendo wie ein Leichenzug vor seinem inneren Auge vorbeihuschten. Ein Mund, gefüllt mit Rasierklingen, eine riesige Schale mit blutigen Herzen, ein offener Schädel, gefüllt mit Augen.
    Und dann der Geruch … Es war ein Gestank nach Verwesung und Schlachthaus, von dem Ronny zwar wusste, dass er seiner Einbildung entsprang, der aber irgendwie mit diesem unheimlichen Typen mit den schwarzen Brillengläsern zu tun hatte.
    Der Mann hob einen hageren Finger und hackte damit auf Ronnys Brustbein. Obwohl es nur die Fingerspitze war, spürte Ronny einen grauenhaften Schmerz.
    In lichten Momenten oder in seltenen Augenblicken der Selbstbesinnung wusste Ronny, dass er ein kranker Sadist war, der sich an den Qualen anderer Menschen aufgeilte. Doch in dem Augenblick, als dieser Fremde zu sprechen begann, wusste Ronny, dass er es mit einer anderen Dimension des Bösen zu tun hatte, dass hier Pfade und Wege offen lagen, die in Bereiche führten, die er sich nicht einmal vorstellen konnte, und dass das Schlachthausinferno, das eben vor seinem inneren Auge aufgeflammt war, nur ein kleiner Vorgeschmack darauf gewesen war.
    »Glaubst du, es gäbe einen Zorn und einen Schmerz, der nicht ich bin?«, sagte der Mann mit dumpfer Stimme, wie aus einer Gruft. »Oder eine Hölle, die nicht mein Geist ist?«
    Ronny wich zurück. Er wusste nicht, wovon der Kerl redete, aber wo Ronny manchmal glaubte, er wäre verrückt, war es dieser Typ wirklich.
    Er blickte nach hinten und sah Timo, der seinen Augen nicht zu trauen schien, dass Ronny zurückwich.
    In diesem Moment trat der Fremde einen Schritt auf ihn zu und stach noch einmal mit seinem klauenartigen Finger nach Ronnys Brust. Diesmal konnte Ronny einen Schrei nicht unterdrücken.
    Die dumpfe Stimme ertönte ein zweites Mal. »Sprich mich nie wieder an, du jämmerlicher kleiner Kläffer. Hast du verstanden?«
    Ronny nickte und setzte langsam einen Schritt hinter den anderen, während die Worte, die der Mann nun sprach, sich in sein Gehirn brannten.
    »Denn alle, die mich kennen, lieben den Tod.«
    Endlich riss Ronny den Blick los, der noch immer gebannt war von der schwarzen Nacht hinter den Brillengläsern.
    Die U-Bahn hielt am Frankfurter Tor, und die Türen des Waggons öffneten sich.
    »Lass uns verschwinden«, rief er Timo zu und zog ihn hinter sich her. »Der Typ hat voll einen an der Klatsche!«
    »Hey, Mann«, sagte Timo. »Lässt du dich von der Schwuchtel einschüchtern?«
    »Halt die Fresse«, zischte Ronny. Was wusste Timo denn schon? Er hatte das Gesicht des Typen nicht gesehen. Und die Schreckensbilder erst recht nicht.
    Ronny zog Timo aus dem Wagen hinter sich her, während die Türen sich schlossen. Die U-Bahn verschwand im Untergrund wie eine gigantische Schlange. Ronny sah die schwarze Gestalt des Mannes in der Mitte des Wagens stehen und in der Schwärze des Tunnels verschwinden, wobei er ihn weiterhin durch das schwarze Glas seiner Sonnenbrille anstarrte.
    Dann war die Bahn verschwunden. Und mit ihr der Fremde.
    Ronny rannte zu einem der Mülleimer und übergab sich.

20
    Seelenfresser, dachte Clara. Eine rituelle Folterung, die man Seelenfresser nennt.
    Ihr Handy klingelte.
    »Vidalis … ja, wir kommen gerade aus der Rechtsmedizin. Ist offen? Jetzt?« Sie warf MacDeath einen Blick zu. »In Ordnung, schauen wir uns an. Ja, jetzt gleich.«
    Sie beendete das Gespräch.
    »Die Spurensicherung ist mit Gayos Büro fertig. Wir können uns die Unterlagen anschauen. Kommen Sie mit?«
    MacDeath nickte.
    »Fahren wir einen Umweg

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