Seelenasche
Er hatte einen Riecher für die entscheidenden Veränderungen. In einer seiner Sendungen hatte er Filmaufnahmen der Erde gesendet, wie sie aus dem Weltall aussah: erstaunlich zart und von fragilem Blau â ein zitternder, ein gleichsam von innen erleuchteter Tropfen Leben. In seinem Kommentar hatte er gesagt: »Mit ihrer barbarischen Zerstörungskraft sprengen die zeitgenössischen Kriege unsere elementarsten Vorstellungen von Moral. Einem Panzer kann der Einzelne vielleicht noch mit groÃer Kühnheit die Stirn bieten; doch selbst mit der gröÃten Opferbereitschaft kann er den Flug einer ballistischen Rakete nicht aufhalten. Die Waffen von heute übertreten selbst das primitivste Gebot soldatischer Moral: dem Gegner ins Auge zu schauen und ihn durch den Einsatz des eigenen Lebens zu töten, sodass er nicht nur Verursacher, sondern auch Zeuge von dessen Tod ist. In einem Atomkrieg sind alle Seiten nur noch Opfer. Bei dieser drohenden Vernichtung, bei der die Gegner sich gar nicht mehr nahe kommen, erscheinen Hass und Entfremdung als letzte Versuche menschlicher Nähe.«
Seine Tochter log hartnäckig und scheinbar sinnlos, sein Sohn drängte sich dem Fernsehpublikum auf, vielleicht gerade um Distanz von den Menschen zu wahren und sich selbst zu schützen, und Emilia und er lieÃen sich scheiden. Die Quintessenz daraus war ein hässliches Paradox: Je näher die Menschen einander kamen, desto mehr wuchs ihre Entfernung voneinander! Seltsam, doch diese Gedanken, die ihn in schlaflosen Stunden überkamen, banden ihn ans Leben. In solchen Augenblicken fühlte Assen sich verjüngt. Das Problem des Alters, liebte er zu wiederholen, bestand nicht darin, dass der Mensch physisch alterte, sondern dass er seelisch jung blieb! Der erschöpfte Körper will schlafen, aber das ewige Kind Seele will weiterspielen.
Den Kopf geneigt, mit vom Wein geröteten Wangen, erschien Emilia ihm schmerzlich lebendig, aber fern, durch Leiden entfremdet. Die Erschöpfung nach diesem anstrengenden Abend mit seinem ekstatischen Auftritt verschloss sie ihm. Er sah sie gleichsam durch dickes Glas. Die umstehenden Tische hatten sich geleert, der Kellner machte sich in seinem Rücken geräuschvoll bemerkbar und zog ungeduldig an seinem Ohrläppchen. Assen rief ihn und zahlte.
»WeiÃt du«, sagte Emilia da unerwartet, »dass du mir entsetzlich fehlst? Sogar deine Unachtsamkeit fehlt mir. Wie soll ich denn meine Eitelkeit erhalten, wenn sie keiner sieht ⦠oder wenigstens übersieht?«
»Du fehlst mir auch«, antwortete er freimütig. »Dieses Wochenendhaus ist riesig, viel zu groà für einen alten Mann allein. Und drauÃen? Nichts als Gebirge.«
»Aber wir trennen uns doch trotzdem, nicht?«
»Aber natürlich ⦠wenn du das brauchst.«
»Ohne dich verletzen zu wollen ⦠Du siehst ja, wie ich die Mutter Courage hinbekommen habe.«
»Und wie du sie hinbekommen hast! Du hast den Untergang der Mutter Courage in deinen unbestrittensten Sieg verwandelt.«
Während der ganzen Rückfahrt im Wagen schwiegen sie. Emilia lieà ihn vor dem Tor des Wochenendhauses aussteigen, wünschte aber nicht, noch auf einen Sprung hineinzukommen. Sie spürte wohl: Wenn sie beide sich jetzt im weitläufigen Wohnzimmer mit all seinen Erinnerungen zusammen hinsetzten, dann würde sie nie wieder die Kraft haben, zu gehen. Sie winkte ihm durch das Seitenfenster zu, gab Gas, und die aufspringenden Scheinwerfer verwandelten den asphaltierten Weg in eine bewegliche Pfütze. Der Himmel stand voll kalter, zitternder Sterne, es roch süÃlich nach frisch gemähtem Gras und würzigen Kräutern, nach menschlicher Vergänglichkeit und â Einsamkeit.
Assen holte tief Luft, spürte die Ewigkeit, jene endlose Absenz, die immer rätselhaft bleibt, unerreichbar und unbegreiflich für den Menschen. Er hatte aber die Bekanntschaft mit einer weitaus hinterhältigeren und verräterischeren introspektiven Erkenntnis gemacht, der nämlich, dass mit dem Alter auch die Angst vor dem Tod kommt. Eine wunderbare, eine herzzerreiÃende Angst stieg in ihm hoch, die erregende Angst, am Leben zu sein.
3
Als Dessislava es aussprach, lachte Maja spöttisch auf, Simeon schaute sie mit dem unterwürfigen Blick des geprügelten Hundes an. Sie selbst aber erschrak, weil sie augenblicks begriff, dass sie wirklich fähig wäre, es zu
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