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Seelenasche

Titel: Seelenasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Zarev
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voller Quellwolken über der Stadt. Selbst unter ihrem Regenmantel fühlte sie sich klebrig und nass. Tief drinnen aber glühte ihr Körper, als hätte sie Fieber. Sie konnte sich diesen Entschluss nicht erklären, den sie da in der Garderobe der Schauspielakademie verkündet hatte, aber die Stimme ihrer Mutter wollte einfach nicht schweigen: »Das war doch bloß deine nächste Lüge, Dess!« Und auf einmal hatte sie die Wahrheit ausgesprochen … Nur dass die Wahrheit manchmal unwahrscheinlicher ist als die haarsträubendste Lüge.
    Â»Irgendwohin müssen wir aber schon fahren«, druckste Evtimov kleinlaut herum.
    Sie schaute ihn an. Die Narbe auf seiner Oberlippe war blau vor Kälte, seine Augen starrten gegen die beschlagene Windschutzscheibe.
    Â»Fahr mich in die Diskothek!«
    Sie wollte einfach ins Trockene, ins Tintenlicht der Unpersönlichkeit, wo es warm, laut und niveaulos war.
    Letztes Jahr hatte man sie in eine Diskothek in Albena am Goldstrand eingeladen. Es war Nachmittag gewesen, und noch nicht viel Betrieb. Vor der Terrasse draußen erstreckte sich die flimmernde Endlosigkeit des Schwarzen Meers. Die roten Lämpchen um Bar und Tanzfläche gaben dem Lokal einen Hauch von gehobener Puffatmosphäre, einige Paare tanzten träge vor sich hin. Da sah sie den Mann. Vermutlich Ausländer. Er mochte an die siebzig Jahre alt sein. Sein weißes Haar hing ihm bis auf die Schultern herab, auf seinem Gesicht spielte ein selbstvergessenes Lächeln. Er strahlte Zufriedenheit aus, aber eine verletzliche Zufriedenheit wie ein Sandkorn, das in der Muschel fremder Aufmerksamkeit zur Perle wird. Als die riesigen Lautsprecher aufdröhnten, stand er auf und begann zu tanzen. Er schien seine Bewegungen derart zu genießen, dass sie einen Raum markierten, in dem er sich einkapselte, in dem er immer einsamer und immer glücklicher wurde. Auffallend war, dass er eine Art leichter, höchst bequemer Pantoffeln trug, die sich an seine Füße schmiegten wie Ballettschuhe. Sie waren sozusagen das i-Tüpfelchen auf seiner ganzen Erscheinung, der eines stillen, selbstzufriedenen Außenseiters, der, ein bisschen lächerlich für andere, im Grunde niemanden mit seinem lächelnd-begeisterten Selbstgenuss störte, und der auch zu niemandem Kontakt suchte. Dieser alte Mann kam ihr inspirierend frei vor, war er doch offensichtlich in der Lage, alle bedeutsamen Ereignisse, die sich in seinem langen Leben abgespielt haben mochten, für diesen einen Moment einzutauschen, in dem er sich der Illusion hingab, noch einmal achtzehn zu sein. Um zehn Uhr rief er den Kellner, zahlte sein Gedeck und den einzigen Kräutertee, den er während der ganzen Zeit getrunken hatte, stopfte seine Tanzpantoffeln zusammengefaltet in eine Plastiktüte und holte aus seiner Sporttasche Ledersandalen mit dicker Sohle aus Rohkautschuk.
    Dessislava wusste auch nicht, warum sie sich an all das erinnerte. Sie fand, dass Evtimov, von flippigen Teenies umgeben, aussehen würde wie ein Gruftie, dessen Anzug und Krawatte Gekicher auslösten, weil sie mit ihrer Eleganz in einer Diskothek einfach geschmacklos overdressed waren. Sie bildete sich ein, dass sie hoffnungslos verliebt in ihn sei; ebendarum wollte sie ihn »vorführen«, verletzen.
    Â»Es ist doch gerade erst fünf«, warf er ein, »und die Diskotheken machen, soweit ich weiß, erst später auf.«
    Â»Dann …«, nahm sie all ihren Mut zusammen, »fahr mich zu dir nach Hause. Deine Familie ist doch am Meer, oder nicht?«
    Er zuckte zusammen. Ein Schatten der Verwunderung huschte über seine Züge, dann verhärtete sich sein Gesichtsausdruck.
    Â»Bist du sicher, dass du das möchtest?«
    Â»Jawohl, Genosse Evtimov. Heute ist unsere letzte Chance. Nächsten Mittwoch heirate ich …«
5
    Mihilfe einiger Nischen hatte »Othella«, Evtimovs bessere Hälfte, den Eingangsbereich ihrer Wohnung in so etwas wie eine Klosterzelle verwandelt. Und als Dessislava das Wohnzimmer betrat, kam ihr das Licht darin nicht etwa nur künstlich, sondern regelrecht krank vor. Es roch steril. Möbel aus hellem Holz, Gipsborde, eingezogene Decke, Stufe zum Esszimmerteil – all diese interessanten, schönen und prätentiösen Elemente der Raumgestaltung ermüdeten schrecklich. Der Wodka, den Evtimov servierte, hatte demgegenüber den Geschmack der gewöhnlichen Dinge; Dessislava

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