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Seelenasche

Titel: Seelenasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Zarev
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tun. Im trüben Halbdunkel hinter den Kulissen hatte sie Simeon gesagt: »Wenn ich heute die Prüfung bei Sotirov bestehe, dann heirate ich dich! Ich liebe Hamlet, er ist Teil meines Lebens geworden, und du bist sein physischer Stellvertreter.«
    Diesmal hatten sich beide richtig fein gemacht, die Projektoren bestrahlten sie mit dem Licht nördlicher Sonne. Die Kulisse, wenn auch ärmlich und mitgenommen, deutete mit zwei Pappsäulen einen Saal im Schloss an, den Hamlet mit seiner verstörten und selbstversunkenen Miene adelte. Von den Spannungen des klaustrophobischen Wahns befreit, kam ihr alles auf der Bühne nur noch banal und stumpfsinnig vor, hergeholt, abgekupfert von der Inszenierung eines beliebigen Märchenstücks. Dessislava schämte sich für diesen Kompromiss, presste ihre Daumen auf die geballten Fäuste und hoffte inständig, der erhabene Sotorov möge sie in der Luft zerreißen, aber siehe … sein gelangweiltes Gesicht heiterte sich auf, sein Mund verzog sich zu einem zufriedenen Grinsen, seine Hand griff in die Sakkotasche und holte ein Glas mit Tabletten heraus, von denen er eine schluckte. Als die Lichter im Saal wieder angingen, sagte er zu ihr:
    Â»Das sieht schon schon ganz anders aus, Kollegin! Dafür kriegen sie ein Befriedigend. Ich hätte mir eigentlich ein bisschen mehr Phantasie von Ihnen erwartet, einen Schuss Verrücktheit! Aber gut … Schönen Gruß an die Eltern.«
    Auch diesmal war Christos Applaus aus der letzten Sesselreihe laut, aber irgendwie lauer als vorher. Evtimov, der neben ihr saß, seufzte nur gequält. Voller Mitleid, besinnungslos gutaussehend und festlich herausgeputzt, ergriff er Dessislavas Hand und flüsterte kaum hörbar:
    Â»Ich warte draußen auf dich.«
    Sie blieb zusammengesunken, verschreckt, gleichsam verscheucht vor der leeren Bühne stehen und wusste nicht, was sie machen sollte. Enttäuscht war sie, ein Opfer der Umstände, und mit einem Eisengeschmack im Mund. Ihr Drang zu lügen war so gewaltig und unerträglich, dass sie machte, dass sie in die Garderoben kam, wo unter dem Licht einer nackten Sechzig-Watt-Birne, in schmierigem Zigarettenrauch und fleckig-dreckigen Spiegeln Sim und Maja die Unsterblichkeit von sich abstreiften.
    Â»Heute haben wir Montag«, wandte sich Dessislava leise, aber entschlossen an ihren Hamlet. »Wenn du also bereit bist, mein Prinz, könnten wir nächsten Mittwoch die Ehe schließen!«
    Â»He, was ist denn mit dir los?«, stupste Maja sie an.
    Â»Ich dachte, das sieht man mir an? Ich bin glücklich.«
    Â»Mach keine Witze, Dess, das Glück von heute ist noch lange kein Grund für die Sklaverei von morgen!«
    Â»Ich meine das total ernst! Du und Bobby seid unsere Trauzeugen. Falls der Bräutigam es sich bis Mittwoch nicht anders überlegt, dann lassen wir ’ne kläglich-kleine Hochzeit steigen.«
    Â»Keine Sorge, gekniffen wird nicht«, erwiderte Simeon finster. »Nur: Was mache ich bis nächsten Mittwoch. Ich dreh durch.«
    Â»Oh, du könntest zwischenzeitlich ein ärztliches Attest einholen, dass du nicht so ein Geschlechtskinkerlitzchen von Krankheit hast. Ich selbst bin frei von Vorurteilen, aber der Staat hat nun mal Fürsorgepflicht in Sachen Familiengründung.«
    Â»O Gott, Dess«, stieß Maja aus, »wenn ich das gewusst hätte, hätte ich auf der Bühne alles Mögliche angestellt, damit du durchfällst.«
    Â»Du warst mir immer eine wahre Freundin!«
    Dessislava knallte die Tür der Garderobe hinter sich zu, doch die Stille drinnen war so dicht und taub wie der geheilte Wahnsinn Hamlets. Maja und Sim hatten ihr tatsächlich geglaubt! Ich werde eine gute Ehefrau abgeben, sagte sie sich, anständig, sparsam und hingebungsvoll … aber heute, heute bin ich noch frei!
4
    Evtimov fuhr drauflos, so zerstreut und ohne Ziel, dass einem der Benzingeruch in seinem klapprigem Lada regelrecht gefährlich vorkam. Draußen ging ein widerlicher Regen nieder, der die Landschaft schraffierte. Die Zeit selbst war zufallsgeladen, wenigstens kam es Dessislava so vor. Das Frühjahr war ansonsten ungewöhnlich freundlich gewesen. Warum musste jetzt, Ende Juni, diese herbstliche Trübsal sich auf sie ergießen? Sofia hatte sich in eine Riesenpfütze verwandelt. Die Menschen ballten sich bienengleich um die Straßenbahnhaltestellen. Der Himmel hing tief und

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