Seelenasche
der Qual, das fleischliche Vergehen zu bekennen, noch erregend war. Seine Mutter und sein Vater schienen alle Einzelheiten von etwas ebenso Hässlichem wie Unwiderruflichem zu kennen, konnten aber dennoch nicht aufhören, es von allen Seiten zu betrachten. Sie hassten sich nicht, schämten sich nicht einmal voreinander, sondern erniedrigten sich nur gegenseitig, bis sie berauscht versanken in der sumpfigen Stille der Nacht.
Christo gewöhnte sich daran, lange wach zu bleiben. So bekam er heraus, dass diese Gespräche zwischen seinen Eltern sich alle paar Tage wiederholten. Jedes Mal erlauschte er etwas Neues, ein einzelnes Wort, ein kleines Detail, eine pikante Einzelheit, die ihn vom Ganzen entfernten, die Wahrheit vernebelten und in seiner Angst verbargen. Benommen, völlig im Bann des Verlangens, sich noch mehr Schmerz zuzufügen, sein Unglück durch Einsamkeit und Verlassenheit zu krönen, drückte er sein Ohr an die Wand und erlauschte so im Verlaufe eines Jahres alle Puzzleteile einer ungeheuerlichen, nicht enden wollenden Geschichte: Wie seine Mutter sich mit Dozent Pejtschev (den er als Kollegen seines Vaters vom Lehrstuhl für Römisches Recht kannte) vor dem Russischen Klub getroffen hatte, wie sie in seinen klapprigen Wartburg gestiegen war, in dem es nach alten Turnschuhen und Benzin roch, wie sie ihn aufgefordert hatte, sie in seine Junggesellenbude zu fahren, um sich dort, im unschuldigen, aber ungehörigen Durcheinander, mit Blick aufs zerwühlte Bett auszuziehen, gedrängt weniger von seiner Begierde als vielmehr beseelt vom Wunsch, anständig zu sein und seine Aufrichtigkeit angemessen zu erwidern.
»Warum hast du das getan, Herrgott nochmal, warum?«
»Ja, verstehst du denn nicht? Alle, mit denen ich bis dahin zu tun hatte, haben mir vorgespielt, wie ehrlich und anständig, gerecht und integer sie seien â und haben mich dann schrecklich enttäuscht. WeiÃt du, wie ich dich angehimmelt habe, weil ich dich für jemanden hielt, der du gar nicht warst? Ja, du hast mich am schlimmsten von allen betrogen!«
»Aber warum?« Die Stimme seines Vaters klang verängstigt und hysterisch zugleich.
»Pejtschev war der Einzige, der mich nicht belogen und betrogen hat. Er hat mir nichts versprochen, sondern wollte mich einfach nur. Er war unverschämt, hat aber nie seine Absichten verhehlt. Da konnte ich ihn doch nicht hinters Licht führen.«
»Noch einmal von vorn«, raunte sein Vater sadomasochistisch, »von diesem Abend bei Viktoria Sestrimska an, als Pejtschev dich zum Tanzen aufforderte.«
»Erst hat er sich spöttisch vor mir verbeugt«, hörte Christo seine Mutter an einem anderen Abend sagen, »und forderte mich dann auf: âºTanzen wir einen Blues zusammen?â¹Â« An einem anderen Abend: »Seine Ironie war so schneidend, er hat noch nicht einmal versucht, mir Komplimente zu machen, sich in ein gutes Licht zu stellen oder mir Blödsinn zu erzählen; er hat mir einfach, sobald wir auf der Tanzfläche waren, seine Hand auf den Schenkel gelegt.«
Christo hatte natürlich keine Ahnung, was seine Mutter da mit diesem komischen Mann mit der groÃen krummen Nase und den dicken Schafslocken in dessen Zuhause gemacht haben sollte. Er hatte Pejtschev nur einmal gesehen, als er zum Professor gewählt wurde. Angst hatte Christo vor diesem kränklich wirkenden Mann nicht, der die ganze Zeit irgendwie schlecht gelaunt aus der Wäsche guckte, als hätte er gar keine Freunde. Es sollten Jahre vergehen, bis ihm plötzlich ein Licht aufging und er durch Zufall in einer Winternacht alles verstand. Da hatten die Stimmen seiner Eltern derart leise, bedrückt und sündhaft-pervers geklungen, dass er es nicht mehr aushalten konnte und â einschlief.
Er träumte vom Meer. Sommer und Meer. Zischeln und Rascheln von Laken weckte ihn. Er sah die Feuchtigkeit auf dem Gesicht seiner Mutter, und auch wenn er nicht dabei gewesen war, wusste er, dass sie geweint hatte. Etwas Ungestümes ging von ihr aus, Liebe gemischt mit Fatalität. Er warf sich in ihre Arme. Es roch nach Seife, nach Sauber, nach Warm, nach bergendem Fleisch. Nie hatte er sich sicherer und geschützter gefühlt als in der Stille dieser urplötzlich zurückgewonnenen Mütterlichkeit, dieser bedingungslosen gegenseitigen Liebe. Seine Mutter hatte ihn an sich gedrückt, ihn geküsst. Ihre Tränen sprachen jetzt nicht von
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