Seelenasche
Erschöpfung, sondern von einer wilden Begeisterung, einem tiefen Ur-Glück darüber, dass es Christo gab und dass sie zusammen waren.
»Mein Kind«, flüsterte sie so eindringlich, als schrie sie, »versprich mir, nein, schwöre mir, dass du dich niemals schämen wirst: Was auch immer dir widerfahren mag, was auch immer du tust â du schämst dich nicht, hörst du?«
»Ich hab vom Meer geträumt«, erwiderte er und begann nun auch zu weinen.
»Versprich mir, schwöre mir«, heulte sie, und ihre Stimme wurde höher, und ihr Glück barst nur so aus ihr heraus, »ja, schwöre mir, dass du dich â was auch immer dir in diesem verfluchten Leben passiert â nie schuldig fühlst! Denk daran, auch wenn ich nicht da bin, auch wenn du schon groà geworden bist, und selbst wenn du etwas Verbotenes, nicht Wiedergutzumachendes getan hast: Du trägst keinerlei Schuld daran. Schwör mir das!«
Er spürte ihren Herzschlag, zermürbt, erschöpft, der aus dem Rhythmus gekommen war in den vielen Jahren, in denen sie vor Scham nicht ein noch aus gewusst hatte, vor Schuldgefühlen, die man ihr angepappt hatte wie klebrige Etiketten. Trotzdem war dieses Herz voller Hingabe. Und auf einmal begriff Christo, was sie im Quartier dieses vor Einsamkeit sonderlich und selbstisch gewordenen Dozenten überkommen hatte. Sie hatte ihren Ehemann, seinen Vater betrogen. Und diese flüchtige, verhängnisvolle Schwäche, sich Pejtschev hinzugeben, nur weil er unverhüllt grob und ohne jede Spur von Verehrung mit ihr umgesprungen war, also vollkommen frei von all diesem künstlichen, verlogenen Getue, ganz und gar ehrlich â diese Schwäche hatte sich nun in ihr Los verwandelt, eine sich ständig wiederholende Schleife, eine endlose menschliche Marter.
»Ich verbiete dir, dich zu schämen, hörst du, ich verbiete dir, dich schuldig zu fühlen. Ich hab teuer genug bezahlt für alles. Nur du darfst mich jetzt noch richten, du bist mein kleiner Mann, denn du bist ganz und gar frei von allem !«
8
In Bulgarien ging seit Jahren nichts mehr ohne Beziehungen! Da die Gesetze nicht für alle galten und mehr dazu geschaffen schienen, die Menschen zu quälen, sie aus der Fassung zu bringen, klein zu halten und zu erniedrigen, bestand der einzige vernünftige Ausweg darin, diese ärgerlichen Gesetze entweder gar nicht zu beachten oder sie gezielt zu umgehen. Die Bauern aus den Schopendörfern um Sofia sagten mit ihrem nüchternen Realismus: »Das Gesetz steht wie ein einsames Tor auf freiem Feld. Ein Narr, wer hindurchgeht!« Nicht nur die spöttischen und findigen Schopen, die Mehrzahl von Christos Landsleuten zogen es vor, keine Narren zu sein. Aber eben: Um dieses Tor umgehen zu können, ohne gesehen und verpfiffen zu werden, brauchten sie Beziehungen.
Er musste Dessislava retten, koste es, was es wolle! Der Fall war vertrackt, aber er fand rasch den Weg zum von Bühnenstrahlern erleuchteten Künstlerherzen Theo Sotirovs. Der im Schutze der Partei sich göttlich fühlende Regisseur hatte unter dem Titel »Mein Herz ist eine Bühne« ein Interview für die Zeitung Rundschau gegeben. Darin wurde erwähnt, dass er, der Rektor der Schauspielakademie, sich ein Wochenendhaus in Boyana am FuÃe des Witoscha gebaut hatte. Christo forschte nach. Laut Gesetz durfte es nicht mehr als achtzig Quadratmeter Grundfläche und nur eine Garage haben. Sotirov aber hatte es mit der Zeit auf einhundertundzehn Quadratmeter erweitert und unter der Terrasse â zwei Garagen. Durch diese Verletzung der Bauverordnungen hatte Sotirov Probleme dabei gehabt, rechtsgültige Besitzstandsdokumente für sein Haus zu bekommen. Dank seiner Berühmtheit und öffentlichen Bedeutung aber konnte er sich direkt an Justizminister Sdravkov wenden. Sdravkov seinerseits hatte Christo gebeten, »einen sachkundigen Rechtsverdreher« ausfindig zu machen, der das Wohnzimmer des Hauses als »Arbeitszimmer« und die zweite Garage als »Atelier« in die Bauzeichnungen eintragen lieÃ, sodass diese ohne ersichtliche Gesetzesverletzung ans Bauamt weitergeleitet werden konnten. Christo kostete dieser Freundschaftsdienst nicht mehr als einen Arbeitstag. Er hatte einen ehemaligen Mitstudenten, der in solchen Fragen mit allen Wassern gewaschen war. Im Gegenzug verlangte er aber von Sdravkov, bei Sotirov ein gutes Wort für seine Cousine
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