Seelenasche
unerwartet und mit jener ÃbergröÃe, mit der man die Dinge unter der Lupe sieht. Die extreme Klarheit des Geschehens hatte etwas von jener, die uns angeblich im Augenblick des Todes überkommen soll.
Er war gerade erst vor einer Stunde in Sosopol am Schwarzen Meer angekommen, hatte sein Gepäck abgestellt in seinem Altstadt-Zimmerchen mit dem Balkon, der direkt auf die Bucht ging mit ihren Gerüchen nach Muscheln und klebrigen Feigen. Er zog die Badehose an, nahm sein Badehandtuch und machte sich auf zum Wasser. Im Hof saÃen seine Mutter und seine Tante unter der Weinlaube, legten eine Patience und winkten ihm lächelnd zu, als er vorbeikam. Da er Dessislava am Abend in die Diskothek einladen wollte, fragte er die beiden Frauen, wo sie sei.
»Auf den Klippen, zum Sonnen, du kennst ja ihr Plätzchen.« Emilia wies auf die Eimer mit dem Eiswasser, in denen die Flaschen mit dem Minzeschnaps zum Kühlen lagen. »Aber verspätet euch nicht, wir brauchen euch zum Salatschneiden.«
Ja, er kannte ihr Plätzchen. Es lag genau gegenüber der Insel mit dem Leuchtturm. Um hinzugelangen, musste man etwa zwanzig Meter einen gefährlich steilen Pfad hinabgehen, der auf ein Felsplateau führte, dessen Kanten von den wilden und sanften Streicheleinheiten des Meeres abgerundet waren. Christo ging die schmalen Treppenstufen hinab, prellte sich die Ferse an der letzten Stufe â und auf einmal sah er sie: beschienen von der tief stehenden Sonne, hingestreckt in wehrloser Nähe, und doch zugleich verlockend fern. Neben ihr lag ein aufgeschlagenes Buch. Der Strohhut auf ihrem Kopf bedeckte halb ihren abwesenden Gesichtsausdruck mit dem kaum merklichen, wie von innen heraus leuchtenden Mona-Lisa-Lächeln. Ihre Augen waren ruhig und geschlossen. Ihr gleichmäÃig gebräunter Körper war von hell gewordenen Sommersprossen bedeckt und kurzen, feinen Härchen, die golden flimmerten. Sie wirkte einsam, verlassen und wundervoll wie eine Göttin. Ihre Schönheit war ⦠so anders, so ⦠verstörend, und so wahnsinnig unschuldig, dass er â zu Tode erschrocken â Zuflucht im Horizont suchte.
In der Abenddämmerung verschmolzen Meer und Himmel in eins, das Wasser dunkelte schwer und machtvoll, und der Himmel schien nur dessen Ausdünstung zu sein. Christo hielt es nicht mehr aus und schaute wieder auf Dessislava. Sie lag immer noch so ungreifbar da, ein auf den Felsen hingegossenes Stück Belebtheit, das verhalten und unangetastet wirkte. Da wurde eine Ahnung in ihm zur Gewissheit. Da blähte sich sein Herz auf und schlug bis zum Hals. Da spürte er, wie ein Wahn ihn anhauchte, kühl, eine Windbö, die nicht abebbte. Bitte ⦠Bitte lass mich nur unbemerkt von hier verschwinden , dachte er und zog sich voller Entsetzen zurück. Hörst du, Dess, nicht die Augen aufmachen, nicht ⦠Er schaute sich um. Zwei Schritte trennten ihn vom rettenden Wasser. Er tat den ersten, kam seiner Rettung ganz nah, ein Vogel, der auf dem rettenden Sims landete. Ich bitte dich, tu mir das nicht an, nur das nicht, Dess, hab Erbarmen ⦠Doch ihr versonnenes Lächeln verschwand, ihre Augen öffneten sich und schauten in seine Richtung, als wäre da gar niemand. Sie waren blau wie das Meer, unergründlich wie die Meerestiefen und der Tod darin. Da erkannte sie ihn. Durchdrang ihn mit ihrem Blick. Dass ihm der Atem stockte.
»Christo, seit wann bist du hier?«
Warum hast du nicht auf mich gehört, Dess? Was machst du denn da mit mir? Woher diese Grausamkeit? Womit habe ich sie verdient?
Er taumelte. Tränen vernebelten den Horizont und nahmen ihm die letzte Hoffnung. Sein Lachen war irre und krächzend wie ein verunglücktes Stöhnen. Er musste erbärmlich ausgesehen haben wie ein auf links gewendeter Handschuh mit zerrissenem Innenfutter, oder aber bedrohlich wie ein Psychopath, denn sie stieà entsetzt hervor:
»Aber Christo, du ⦠mein Gott, was ist denn los mit dir?«
Da sprang er einfach ins Wasser. Der Salzgeschmack des Meeres mischte sich mit dem Schmerz seiner alles verschlingenden Einsamkeit. Er schwamm hinaus, erbittert, und immer weiter, gefährlich weit schwamm er hinaus, und er würde nicht eher umkehren, bis er die Grenzen des Möglichen erreicht hatte, die Grenzen seiner selbst. Die Bucht bog sich hinter ihm zusammen wie ein Hufeisen, das der liebe Gott groÃzügig hingeworfen hatte, damit die Menschen
Weitere Kostenlose Bücher