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Seelenasche

Titel: Seelenasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Zarev
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ihr den Hof wie ein Pennäler. Dann fuhr er zu Filmaufnahmen nach Weliko Tarnowo, und sie blieb beklemmend allein. Und unter praller Augustsonne einen Winterpullover stricken, das war auch irgendwie blöd.
    Jana beunruhigte sie in letzter Zeit. Sie log, sie habe ihre Mutter im Keller getroffen. Dessislava wagte nicht, Jordan davon zu erzählen. Sie wollte ihn nicht in seiner Trauer aufstören. Die Kleine schien auf ihren Pfaden zu wandeln, wurde langsam ein süßer Lügenbold. Jana hatte Phantasie, aber das allein war es nicht: Die wahre Lüge ist Frucht der menschlichen Intuition. Sie ist ein geistiger Instinkt, eine Schutzreaktion gegen die allgegenwärtige Unvollkommenheit und ein Versuch, das Böse zu umgehen, ohne Gewalt anzuwenden, oder eben die eigene Einsamkeit in überbordende sprachliche Pracht zu hüllen.
    Der Spiegel im Bad war vernebelt. Jana planschte in der vollen Badewanne und schaute sie von unten mit zusammengekniffenen Augen an. Ihr rundliches Körperchen schimmerte weich.
    Â»Was ist besser, Tante«, fragte sie, »klug sein oder schlau?«
    Â»Am besten ist gehorsam sein und nicht lügen.«
    Â»Und warum lügt unsere Pionierleiterin dann?«
    Â»Weil die nicht mehr weiß, wie sie mit euch fertigwerden soll, und da erschreckt sie euch eben ein bisschen.«
    Â»Und Oma, warum lügt die?«
    Â»Omas lügen nie, wie kommst du denn darauf?«
    Â»Gestern warst du doch zu Hause, nicht? Aber die Oma hat jemandem am Telefon gesagt, du wärst nicht da!«
    Â»Ich hab sie darum gebeten, Jana. Ich will mich nicht mit diesem aufdringlichen Kerl treffen.«
    Â»Dann lügst du also!«
    Â»Ja, das stimmt, ich bin eine Lügnerin, und zwar eine gewaltige.«
    Â»Dann will ich auch eine gewaltige Lügnerin sein! Du bist so schön und so lieb, wenn ich ein Junge wäre, würd’ ich dich heiraten.«
    Â»Danke für das schöne Kompliment, Liebes.«
    Jana log wie Dessislava und war genauso kindlich; bis zu ihrem dreißigsten Lebensjahr würde sie einer Infantin gleichen. Die große Lügnerin hüllte die kleine in ein Frotteehandtuch, in dem sie völlig verschwand. Trotz des Fichtennadel-Badezusatzes roch die Kleine süßlich nach Milch. Dessislava trug sie ins Schlafzimmer und begann, ihr Zöpfe zu flechten. Als sie aber den Kinderschlafanzug aus dem Schrank holte, bockte Jana:
    Â»Ich bin aber noch nicht müde.«
    Â»Das glaubst du nur. Mach einfach die Augen zu und zähl Schäfchen bis tausend.«
    Â»Ich will keine Schäfchen zählen, sondern aufm Pferdewagen Eis essen und ans Meer fahren, schwimmen.«
    Â»So viele Dinge passieren aber nie auf einmal, darum zähl vielleicht einmal fünfhundert Schäfchen und danach fünfhundert Blümchen.«
    Â»Gehst du morgen mit mir in den Zoo, wenn ich bis tausend zähle?«
    Â»Sicher«, nickte Dessislava. »Und danach essen wir Frikadellchen.«
    Â»Das sagst du jetzt bloß! Aber du hast doch selber gesagt, du bist eine Lügnerin?«
    Â»Erwachsene Leute lügen immer nur, wenn ihnen was wehtut. Kinder lügen wir nicht an!«
    Â»Tun sie doch! Heute hab ich Mama aufm grünen Weg am Kanal getroffen, und da hat sie mir versprochen, wieder nach Hause zu kommen!«
    Dessislava fuhr derart zusammen, dass sie das Kopfkissen fallen ließ. Janas Augen schauten ihre Tante aber vollkommen unschuldig und aufrichtig an, bevor sie sich mit Tränen füllten.
    Â»Du weißt doch, dass Mama für immer fortgegangen ist?«
    Â»Sicher ist sie fortgegangen, aber heute Mittag hab ich sie gesehen, und sie hat versprochen, wiederzukommen.«
    Nun würde sie mit dem Weinen nicht mehr aufhören, bis sie vor Erschöpfung einschlief, untröstlich und zusammengerollt wie eine Katze. So ging das fast jeden Abend. Dessislava gab ihr einen Klaps.
    Â»Pass mal auf, Jana, jetzt hör einfach mit der Lügerei auf! Merkst du denn nicht, dass wir alle hier dich liebhaben? «
    Sie zuckte zurück wie vor der heißen Herdplatte: Das waren sie, die magischen Worte Jonkas, die sie so lange verzweifelt gesucht hatte. Sie hatte sich eingeredet, wenn ihr dieser vor vielen Jahren im Halbdunkel, in den Tiefen ihrer Kindheit geraunte Satz einfallen würde, dann würde sie aufhören zu lügen! Jonka erzählte ihr von Widin, von der Donau und von ihren Vorfahren, die sich nach dem Meer gesehnt hatten, der Ruhe, die die

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