Seelenasche
an den aktuellen Missständen einem toten oder entthronten Parteiführer angelastet werden sollte.
In einer solchen politischen Hackordnung war es doch nur logisch anzunehmen, dass Gorbatschow in seinem Drang, sich zwanzig, dreiÃig ungetrübte Regierungsjahre zu sichern, gezwungen war, die ganze Brut der altgedienten Haudegen, die mit Breschnjew, Andropow und Tschernjenko in der Parteienhierarchie aufgestiegen waren, zu verjagen und alle entscheidenden Posten in der Führungsriege mit gleichgesinnten Kandidaten seiner Altersgruppe zu besetzen, die die Chance bekamen, mit ihm an der Spitze alt zu werden. (Um diese Posten und die damit verbundenen Privilegien zu erhalten, mussten sie sich â ganz wie es in Frankreich zur Zeit des Sonnenkönigs Ludwig XIV. war â allerdings mit der Rolle blind ergebener Höflinge zufriedengeben.)
Von dieser Warte aus betrachtet, wurde der ganze sprachliche Aufwand, der um diese nebulöse Perestrojka getrieben wurde, schon etwas klarer, und die bulgarischen Parteigenossen hatten nichts dagegen, ihr Fähnchen auch diesmal nach dem Winde zu hängen, ja, sie sogar auf Bulgarien zu übertragen, wo der Genosse Shivkov, der Mann aus dem Volk, und seine ganze überalterte Entourage nach Ablösung geradezu schrien. Ãngstlich schauten sie sich nach passenden Nachfolgern um, die ihren »Demokratisierungskurs« fortsetzen konnten, tuschelten von Verschwörungen, die in der Luft lagen, gar von einem kommenden Umsturz, und kamen je nach persönlichem Nutzen oder Vorliebe mal auf Andrej Lukanov, mal auf Peter Mladenov.
Da geschah etwas Unvorhergesehenes, das auf den ersten Blick unwichtig erschien, sich aber als Keimzelle der späteren Ereignisse erwies, da hier nicht einfach nur eine abweichende politische Meinung sich artikulierte, sondern ein glühender Protest aufbrandete, der die ganze Lethargie und Kraftlosigkeit der Machthaber und ihrer eingerosteten Staatsmaschinerie aufzeigte. Dieser gewaltige repressive Apparat erwies sich auch in Bulgarien als Koloss auf tönernen FüÃen, der bei der kleinsten Regung menschlicher Spontaneität, dem leichtesten Erdbeben einstürzen und in den Staub seiner eigenen Ohnmacht und paranoiden Ãngste fallen konnte.
Seit Jahren verpestete ein Chemiewerk in Giurgiu am rumänischen Donauufer die Luft der Stadt Russe am bulgarischen Ufer des groÃen Stroms mit seinen Schwefel- und Chlorwasserstoff-Emissionen. Die feinen Dunstwolken, die gespenstisch über den Wasserspiegel krochen, griffen die Atemwege der Menschen an, die sich vorkamen wie in einer gigantischen offenen Gaskammer. Die Babys und Kleinkinder erkrankten oder starben reihenweise an Pseudokrupp, Bronchitis und anderen gefährlichen Lungenerkrankungen. Die rumänischen Genossen weigerten sich, trotz der ewigen und unerschütterlichen Liebe zum bulgarischen Brudervolk, die Gasemissionen in Giurgiu zu stoppen, und so bekamen die Proteste der um das Leben ihrer Kinder besorgten Bürger von Russe immer mehr Zulauf. Diese Proteste hatten eigentlich keinen politischen Charakter, aber eine klare StoÃrichtung, und sie waren trotz ihrer vielen Teilnehmer sehr gut organisiert. Selbst wenn die Volksmiliz verstärkte Präsenz zeigte, wurden die Protestkundgebungen, zu denen die Mütter demonstrativ Kinderwagen vor sich herschoben, unerschütterlich durchgeführt. Da gründete eine Intellektuellengruppe aus Sofia, von denen die meisten Parteimitglieder waren, ein »Komitee für Glasnost und Perestrojka«, dessen vornehmstes Ziel es war, die Protestierenden von Russe zu unterstützen. Doch sogar noch am Ende dieses Sommers 1989 lag die Ungewissheit in der Luft wie ein kommendes Gewitter, bitter wie der Geruch nach Queckengras, irrational und allumfassend wie die Angst.
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Mit vorgerecktem Nacken und gespannten Nerven ging er, weiter und weiter ging er, um dieses Spektakel zu hören, zu sehen, zu erfassen und sich einzuprägen. Was für eine Wut da aufstieg aus der weit geöffneten Kehle des Platzes, eine bedrohliche Wut, eine Wut, die keinen Spaà verstand. Dieses Rumoren aus dreiÃig-, vierzig-, fünfzigtausend Kehlen zog ihn magisch an wie jede Hoffnung, sodass er am liebsten darin aufgegangen wäre, ein Tropfen, der sich genau in dem Moment auflöste ins über viele Jahre angestaute Wasser, in dem die Staumauer brach, in dem Moment, in dem es den Verstand verlor, ausrastete, in wildem Sturz sich
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