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Seelenasche

Titel: Seelenasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Zarev
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Fingerspitzen erkennen, Tintentropfen daran hindern, sich im Wasser aufzulösen, durch Geisteskraft Gabeln verbiegen und Möbel verrücken, ja, durch pure Konzentration die Braunsche Bewegung anhalten. Es wimmelte nur so vor Geistersehern, Medien, Leuten, die wussten, wie man sich von bösem Zauber befreite, und natürlich Kennern der indischen Karma-Lehren. Andere hatten die Geheimnisse der Welt entschlüsselt, wussten, nach welchen Prinzipien die ägyptischen Pyramiden erbaut waren oder dass der afrikanische Tulu-Stamm den Sirius bereits als Dreierstern erkannt hatte, was unserer hochtechnisierten Welt erst mit modernsten Teleskopen zu beweisen gelungen war.
    In der Sowjetunion tauchte ein übersinnlich begabter Mann der Sonderklasse auf, Kaschpirowski mit Namen, der vom Fernsehbildschirm aus ein Millionenpublikum zu hypnotisieren und mit kosmischer Energie zu heilen versuchte, indem er lächelnd, mit sonorer Stimme eindringlich und monoton … zählte. Er kam auch nach Bulgarien, wo er freudig und voller Vorschussvertrauen empfangen wurde wie Juri Gagarin, der erste Mann im Weltraum, dreißig Jahre zuvor. Der riesige Saal 1 des Nationalen Kulturpalastes platzte aus allen Nähten vor Kranken, Leidgeprüften und vor allem Neugierigen; da Kaschpirowski aber nicht irgend so ein westlicher Scharlatan war, sondern »einer von uns«, beinahe ein Landsmann, wurden seine Séancen auch bei uns im Fernsehen ausgestrahlt. Die Menschen schalteten ihre Geräte eine Stunde früher ein, um nur ja nichts zu verpassen, doch statt heilsamer kosmischer Energie packte sie nur eine wundersame Schläfrigkeit.
    In diesem übersinnlichen Tohuwabohu ging eine Prophezeiung der blinden bulgarischen Seherin Wanga fast unter, dass in naher Zukunft eine schreckliche Katastrophe mit Kursk geschehen würde. Das Gerücht ihrer Voraussage ging von Mund zu Mund und wurde je nach Temperament mal zu einer apokalyptischen Katastrophe für den ganzen Planeten, mal zur bangen Hoffnung, der Kelch möge an der Menschheit vorübergehen. Doch sosehr man auch auf Kursk starrte, dort geschah nichts außer dem erbitterten Kampf gegen den Alkoholismus, den die Führungsriege der Perestrojka-Zeit mit Michail Gorbatschow an der Spitze führte. Es mussten Jahre vergehen und Wangas Prophezeiung in Vergessenheit geraten, bis in den Tiefen des Ozeans das Atom-U-Boot »Kursk« explodierte und zum wiederholten Male erwies, wie groß der Unterschied zwischen Wanga und all den vielen großen und kleinen Geschäftemachern mit der menschlichen Angst war.
2
    Die Nomenklatura, die auf allen Etagen der Macht klebte, vom Zentralkomitee über die Ministerien bis hin zu den Kreis- und Gemeindekomitees der Kommunistischen Partei Bulgariens, war zunächst beunruhigt, dann verblüfft und schließlich erschrocken. Schon im Frühjahr tauchten – im wohlbekannten bulgarischen Versuch, den sowjetischen Genossen nach dem Munde zu reden – in den Medien Beiträge auf, in denen mit wachsender Hysterie von Glasnost und Perestrojka geredet wurde. Die Propaganda blies die Backen auf und trötete von Demokratisierung, von tiefgreifenden Reformen … Wie diese auf jedem Parteitagsplenum erneut einstimmig beschlossenen Leerfloskeln und abgenutzten Parolen aber praktisch umgesetzt werden könnten, das wusste niemand zu sagen. Besonders an frischen Ideen zur Rettung der dahinsiechenden, überdimensionierten bulgarischen Industriekombinate durch Steigerung ihrer Produktivität mangelte es; darüber konnten auch die an schamanistische Beschwörungen erinnernden Durchhalteparolen nicht hinwegtäuschen. Dann ließ die ideologische PR-Abteilung des Zentralkomitees, vermutlich im Auftrag des Politbüros, zunächst verschämt, dann aber mit immer größerem Enthusiasmus verlauten, dass die demokratischen Reformen in Bulgarien, sprich »Glasnost und Perestrojka«, doch schon längst vollzogen worden seien, und zwar in der nach dem berühmten Aprilplenum des Jahres 1956 entwickelten Julikonzeption der Partei! Wieder einmal hatte man alles richtig gemacht. Der Wolf war satt geworden, und das Lamm unversehrt geblieben , wie das schöne bulgarische Sprichwort sagte. Jedenfalls tat der Wolf so …
    Die alten, ergebenen Kommunisten, die immer noch mit den Illusionen und Idealen ihrer Jugend lebten, fanden, dass Gorbatschow zu weit gegangen war und jede vernünftige Grenze

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