Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Seelenasche

Titel: Seelenasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Zarev
Vom Netzwerk:
ergoss, todesmutig und voller Selbstverachtung. Doch er spürte instinktiv, dass dies hier ihm besser nicht gefallen sollte, dass er besser nicht daran teilnahm; denn es erfüllte ihn mit einem mysteriösen Widerwillen gegen sich selbst.
    Die Dämmerung brach herein. Geblendet von den Neonlampen, sank die Nacht herab wie ein starker, aufputschender Kaffee. Eine Nacht voller Aufbegehren und Ungewissheit. Eine unvorhersehbare Nacht. Es wimmelte nur so vor Polizisten, doch selbst die wirkten wie berauscht, benahmen sich entweder besonders zackig-militärisch oder besonders still, eingeschüchtert von ihrer wachsenden Bedeutungslosigkeit. Das, worauf man sie viele Jahre lang vorbereitet hatte – nun war es eingetreten; doch sie fühlten sich verunsichert und hilflos, wie verwaist ohne die Angst, die sie den Menschen bisher zuverlässig durch ihr bloßes Erscheinen eingejagt hatten, die Angst, die ihnen Macht und Bedeutung verliehen, sie selbstsicher und stolz darauf gemacht hatte, dass sie Recht und Ordnung waren, das Monopol auf den sichtbaren Glanz und die unsichtbare Freude an der Gewaltausübung besaßen. Nun aber? Nun flößten sie keinerlei Angst ein, sondern wirkten so farblos und gebrechlich, als gelte ihre ganze Wachsamkeit nicht der Verteidigung des Staates, sondern nur der Selbstverteidigung, und das bei dieser Kälte. Es hätte ein Wunder geschehen müssen, damit sie ihre Selbstsicherheit wiedergewannen, mochte dieses Wunder auch nur in einem schlichten Befehl von oben bestehen, sich zurückzuziehen; aber es gab niemanden, der ihn hätte erteilen können. Ja, das Leben war schwierig geworden ohne vorgegebene Ordnung, unvorhersehbar. Begreifen tat das keiner von ihnen, aber fühlen, fühlen tat es jeder. Mit einem Wort: Das Leben verdiente plötzlich seinen Namen, war echt, war authentisch geworden …
    Er umrundete den ganzen Platz vor dem Parlamentsgebäude nun sicher schon zum fünften Mal in seiner unendlichen spiralförmigen Annäherung an das Gravitationszentrum dieser geballten Wut, einer Annäherung, die unendlich sein würde, weil er sich dagegenstemmte, oder vielleicht weil dieses Zentrum selbst es war, das ihn zugleich anzog und abstieß. Er musste aussehen wie ein Mensch, der sich in einem Labyrinth verirrt, Weg und Richtung verloren, nicht aber sein Ziel vergessen hatte.
    Â»Was bist du denn für einer, ey«, hielt ihn ein Uniformierter an. »Zück mal deinen Personalausweis, aber dalli.«
    Der Mann war im Rang eines Leutnants und hatte einen Schmiss auf der rechten Wange. Vermutlich war er dem Milizmann aufgefallen, weil er wiederholt hier vorübergekommen war. Die Stimme des Ordnungshüters war gereizt, seine Stiefel verstaubt, seine Augen vor Angst wie poliert. Er leuchtete ihn mit der Taschenlampe an, um ihn einzuschüchtern, oder vielleicht eher, um selbst Courage zu bekommen. Er blätterte in dem Ausweis, verglich Passbild und Gesicht und zuckte zusammen, weil der Platz in diesem Moment bebte unter dem Protestgebrüll der Abertausende.
    Â»Da schau einer an: Krum Krumov … Ich heiße auch Krum.« Der Offizier lächelte säuerlich, als fühle er sich schuldig für etwas. »Wohin des Wegs, Genosse Marijkin, he? Einfach so hin und her?«
    Krum verließ den Platz Richtung Graf-Ignatiev-Straße, bog schließlich ein in den Tolbuchin-Boulevard, ging am Universitätsgebäude entlang, an der Volksbibliothek vorbei, sah den Obelisken des Wassil-Levski-Denkmals vor sich und – bog erneut in jenes kleine Sträßchen am Botanischen Garten ein, das ihn wieder zum Platz vor dem Parlament brachte, hinein in die erleuchtete Wut der anderen, hin zu den anderen, hin zu – wie er sich gramvoll eingestand – sich selbst, hin zum nächsten Aufschub, zum nächsten verzweifelten Losreißen und Sich-Entfernen am Klotz des Parteigebäudes, vorbei zum Dondukov-Boulevard mit seiner verwirrenden, einsaugenden Leere und der an der Kurve regelmäßig klappernden und schaukelnden Straßenbahn.
    Vor einem Monat hatte er im Fernsehen eine Übertragung vom Fall der Berliner Mauer gesehen. Aus dem Bildschirm drang dieselbe Raserei nach einer langen und entsetzlichen Unterdrückung wie hier. Sie hatten im alten Wohnzimmer gesessen, das immer noch so halb möbliert und vom Muff einer fortdauernden Armut durchzogen war wie eh und je, mit dem konservierten Duft nach Quitten und

Weitere Kostenlose Bücher