Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Seelenasche

Titel: Seelenasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Zarev
Vom Netzwerk:
sind«, sagte ihre Mutter.
    Â»Natürlich sind wir alle vereint«, bekräftigte ihr Vater.
    Â»Und das wollen wir auch bleiben.«
    Ihre Mutter machte diese Geste, mit der sie als Mutter Courage auf den vom Krieg gesenkten Horizont wies, auf die nicht enden wollende menschliche Niedertracht und Unverbesserlichkeit. » Glücklich vereint!«
    Dessislava schloss ihre Augen. Schwieg. Sie hatte schließlich geschworen, nicht mehr zu lügen!

ZWEITES BUCH

Erstes Kapitel
1
    Das Jahr 1989 begann unpointiert und lasch wie ein schlechter Witz. Doch es erwies sich als lange Dämmerung eines neuen Tages, der schüchtern nahte, dafür aber umso strahlender heraufziehen würde. Die Luft schien elektrostatisch geladen, hie und da blitzten Funken auf – Herolde guter Nachrichten, euphorisierender Ereignisse. Das war eine Luft voller Hoffnungen und Vorzeichen, voller Aufbegehren und gedrosselter Begeisterung, doch wie jede Ungewissheit auch voller Bedrückung und Angst.
    In ihrem umfangreichen Kommentar »Fortgesetzter Dialog« beschrieb das Werktätigenblatt , wie Margaret Thatcher auf ihrem Rückweg von Tokio nach London in Moskau Zwischenstation gemacht und mit Michail Gorbatschow Gespräche geführt habe, die »mehr als nur konstruktiv« gewesen seien, ja, geradezu »warm und freundschaftlich«. In einem Artikel namens »Konkret und sachlich« wurde von dem Treffen Schewardnadses mit Baker in Jackson Hall im US-Bundesstaat Wyoming berichtet. Abgedruckt wurde auch das Interview Alexander Jakowlews, in dem dieser sagte, »das neue politische Denken sei geleitet von jahrhundertealten ethischen Bestrebungen«. Diese ganze in Andeutungen und Schein versandende Begeisterung über den Aktivismus der »sowjetischen Genossen« war umgeben von den Sensationsmeldungen »AIDS ist die neue Seuche der Menschheit« und »Die Sonde Voyager 2 ist unterwegs im All«. Überdies erfuhr der sozialistische Staatsbürger, dass Bulgarien das Land mit der höchsten Quote an privatem Wohneigentum auf der Welt sei.
    Nach einer Reihe lautstarker Auseinandersetzungen, offener Schlägereien und krimineller Ausschreitungen kam es in den Wohnbaracken der vietnamesischen Gastarbeiter zu Brandstiftung und sogar Morden. Die Bürger waren entsetzt. Zehntausende Menschen, einst eingeladen, beim sozialistischen Aufbau mitzuhelfen, wurden aus dem Land verjagt, obwohl die verschwenderische, ja, übertriebene Bautätigkeit keineswegs nachließ und schon bald ein chronischer Arbeitskräftemangel spürbar wurde. Die Vietnamesen hatten der Stadtlandschaft Sofias ein besonderes Flair verliehen. Die meisten kamen aus Saigon, waren angesteckt vom American Way of Life, obwohl in ihren Augen noch die Erinnerung an Krieg und Zerstörung, Elend und Tod lag. Für Bulgaren war es schwer zu sagen, was sich hinter diesen freundlich blickenden Augen verbarg, und ob sie nicht von einem Messer im Ärmel ablenken sollten. Sie waren entweder unglaublich fleißig oder ansteckend faul; einige arbeiteten also höchst gewissenhaft, andere schlampig. Und bei ihrem höflichen, von asiatischer Zurückhaltung geprägten Benehmen wusste man nie, ob sie wirklich so still und sanft waren, oder ob sich hinter dieser Maske nicht Unversöhnlichkeit und Rachsucht verbargen.
    Sie fingen und aßen die herrenlosen Hunde, sodass deren ungezügelte Vermehrung im Großstadtdschungel Sofias ein makabrer Indikator für die Ausweisung und Rücksendung der Gastarbeiter wurde. Die Luft schien nach läufiger Hündin zu riechen. Wohin man auch ging, sah man, wie die Tiere sich besprangen, als habe die Natur höchstpersönlich Angst bekommen, die Hunderasse sei vom Aussterben bedroht. Eine Unzahl Promenadenmischungen und Bastarde erblickten das Zwielicht einer Welt im Umbruch, und man wusste nie, ob und wann diese missgestalteten Ausgeburten faul und freundlich, und wann sie bissig und böse waren – vor allem, wenn sie einem Rudel angehörten.
    Wie es in ungewissen Zeiten voller Erwartungen und wachsender Ungewissheiten so ist, tauchten aus dem Nichts Tausende von Eingeweihten, Wundertätern, Wahrsagern und Esoterikern auf, die dich von allen möglichen und unmöglichen Krankheiten heilten, von Hämorrhoiden und Psoriasis bis zu Krebs und schlechtem Mundgeruch; andere Träger übernatürlicher Begabung konnten Farben mit verbundenen Augen, nur durch Auflegen der

Weitere Kostenlose Bücher