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Seelenasche

Titel: Seelenasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Zarev
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Herbst. Sein Vater war unrasiert gewesen, im Unterhemd und finster wie der Tag draußen. Er hatte die Fäden der Weltgeschichte, an denen er einst so stark gezerrt hatte, längst aus der Hand gegeben, wirkte wie ein dahinsiechender, an einer unbekannten Krankheit leidender Mensch. Krum Marijkin hatte keine Macht mehr über die Ereignisse; sein unerschütterlicher Glaube, seine erschreckende Unbesiegbarkeit waren aus dem Verkehr gezogen worden wie ein verkehrsuntauglicher Pkw, den man aber noch nicht verschrottete, sondern auf dem Autofriedhof zwischenlagerte, für den Fall, dass man Teile davon noch verwenden konnte. Dort rostete er vor sich hin, bis ihn nicht nur die Revolution und die Zeitläufte, sondern auch die Menschen vergaßen. Der vormalige Schrecken von Widin, Krum Marijkin, ein Leben lang ohne Familiennamen, war nun wirklich ein Nichts und Niemand geworden. Es war fast so, als sei er nicht vor vierzig Jahren, sondern gerade eben erst mit seinem struppigen, mit Hausrat beladenen Maulesel in Widin angekommen, habe das Festungstor durchschritten, staubig, müde und wild wie der Weg, eine provozierende Erscheinung, ein fließender Schatten, von der glühenden Sonne scharf konturiert wie die Gewalt, eine noch unerfahrene, unverfälschte Gewalt voller Größe. Während die Bilder zeigten, wie die Berliner Mauer umgestürzt wurde, sah sein Vater noch immer aus wie ein zorniges Kind, ein Kind, das man tief gekränkt hatte, weil man an seinem Lieblingsspiel kein Gefallen fand. Vor lauter Starren auf den Bildschirm konnte er sich nicht mal seine Zigarette anzünden. Seine Hände zitterten, und er schwitzte wieder seine beklemmende, zermürbende Opferbereitschaft aus, seine grenzenlose, jeden Widerstand erstickende Bereitschaft, für die anderen in den Tod zu gehen und sie sich auf diese Weise bedingungslos zu unterwerfen.
    Sein Gesicht versteinerte in einer furchteinflößenden Maske, der aufsteigende Hass ließ das Blut in seinen Adern gefrieren, und Krum Krumov befürchtete, der Hirnschlag könne sich wiederholen und seinen Vater erneut in Schweigen und Reglosigkeit stürzen, erfüllt von Protest und sturem Trotz des Besiegten. Noch ein Moment, und der alte Starrkopf wäre des Todes. Da fiel bei Krum Krumov der Groschen: Er sprang auf und schaltete den Fernseher aus. Dann eilte er sofort zu den Medikamenten seines Vaters. Seine Mutter, zitternd vor Schrecken, in Tränen aufgelöst vor Liebe zu diesem unverständigen, aber noch im Alter schönen Mann, dessen Kompromisslosigkeit in vielen gemeinsamen Jahren sie vor allem durch die ungezählten Stunden bitterer Einsamkeit erfahren hatte, holte aus dem Kühlschrank die eisgekühlten, blutigen Fleischscheiben, stellte die Pfanne auf den glühenden Herd und warf die fetten Stücke hinein. Erst als sie zischend aufspritzten, erinnerte sich der Sohn an den Sinn der panischen Eile seiner Mutter. In besonders schlimmen, unerträglichen Momenten ihres Lebens bekamen die Männer der Weltschev-Sippe einen unbändigen Heißhunger auf Fleisch. Es aß sie Fleisch, es trank sie Fleisch, es war ein atavistisches, nicht zu bändigendes Verlangen nach Stillung eines Hungers, der nicht nur aus dem Magen kam. Sie brauchten Fleisch, um ihren Zorn und ihr schneidendes Leid zu besänftigen, um allein mit ihrem Schmerz bleiben zu können und ihre eigene innere Raserei ertragen zu können.
    Krum seufzte bei dieser Erinnerung. Er hielt einen Moment an vor der auf Gelb blinkenden Ampel, dann war er schon wieder am keilförmigen Gebäude der Parteizentrale angelangt, über deren stalinbarockem Portal hoch oben ein rubinroter fünfzackiger Stern funkelte, mystisch und traumverloren. Ringsum war es geradezu gefährlich menschenleer, bis er um die Spitze des mit schwerem Marmor verkleideten Keils herum war und der Atem der Demonstrierenden ihn wieder einzusaugen versuchte. Er spürte aber augenblicks: Wenn er dieser Versuchung nachgab, verriet er auch seinen Vater und lieferte ihn dem sicheren Tod aus. Verstohlen sah er sich um, dann bog er in die andere Richtung ab, zum Zentralen Universalkaufhaus ZUM. Nach zwanzig Minuten hastigen Gehens war er wieder an der Stelle, an der ihn der Polizeileutnant mit der Narbe auf der Wange angehalten hatte, der wie er Krum hieß. Er stand noch immer da, im Schatten der Kirche Siebenheiligen und ganz verloren inmitten der anderen fünfzig

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