Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Seelenasche

Titel: Seelenasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Zarev
Vom Netzwerk:
überschritten hatte, innerhalb derer man den Sozialismus demokratisieren konnte. Er hatte gewissermaßen den Geist aus der Flasche entweichen lassen. Seine hohe Denkerstirn mit dem markanten Fleck verhieß eher Anarchie, menschliches Elend und Chaos als produktive Befreiung. Die erschütternde Wahrheit über die von Stalin in Sibirien betriebenen Gulags, über die fortdauernden Repressionen und Pogrome gegen Menschenmassen in der Größenordnung ganzer Völker, aber auch gegen treu ergebene Parteigenossen, verbreitete nicht nur nachträglich Furcht und Schrecken, sondern zeigte auch, dass der Sozialismus das größte und furchtbarste Experiment war, das je mit ganzen Völkern im Namen des Humanismus unternommen worden war.
    Die jüngeren Leute hingegen, vor allem die Intellektuellen, fanden ganz im Gegenteil, dass Gorbatschow sich allzu sehr darin gefiel, inkompetente Reden zu schwingen und mit dem westlichen Klassenfeind zu flirten, aber viel zu unentschlossen bei der Umsetzung seiner von allen so heiß ersehnten Demokratisierungspläne vorging. Die meisten »Ehemaligen«, das heißt überlebende Fabrikanten und Unternehmer, Großgrundbesitzer und Bankiers aus vorsozialistischer Zeit, versteckten sich lieber, denn sie erinnerten sich noch lebhaft an ihre Zeit in Arbeitslagern und Gefängnissen. Sie rieten auch ihren Kindern: »Diese Veränderungen sind trügerisch und nur von kurzer Dauer, vermutlich sogar ein Köder! Beißt lieber nicht an, sondern wartet, bis die da oben ihre pseudokommunistischen Rechnungen beglichen und ihre Machtkämpfe ausgefochten haben; denn wenn wir uns jetzt einmischen, dann müssen wir am Ende wieder alles ausbaden!«
    Die Nomenklatura-Leute hielten die Ohren offen, klatschten auf den Versammlungen lau Beifall und taten das einzig Vernünftige, was man in so verwickelten und unklaren Situationen tun konnte: nichts. Und das lautstark und demonstrativ. Nein, dies waren nicht mehr jene Idealisten, die Bulgarien um 1950 regiert hatten und den Marxismus-Leninismus, die Diktatur des Proletariats durch Gewalt, als einzig wahre Wissenschaft vom Prozess der Gesellschaft anerkannten. Die jetzigen, das waren schon verfeinerte, gebildete Personen, die mit den Gepflogenheiten und Techniken einer jeden hochentwickelten Administration wohlvertraut waren. Die meisten von ihnen waren Pragmatiker, was unter den gegebenen Umständen nichts anderes hieß als vollendete Zyniker, die an nichts mehr glaubten . Sie waren fachkundig, verstanden etwas von den Funktionen, die sie ausübten, doch es war das ideologische System selbst, das sie mit seiner vorgeschriebenen Gleichheit entmutigte und ihnen zeigte, dass man Karriere machte nicht durch Wissen und Engagement, klaren Kopf und Courage, sondern durch geduldiges Ertragen von Unqualifiziertheit, wenn sie nur auf dem höheren Posten saß, und durch das Knüpfen möglichst vieler nützlicher Verbindungen zu einflussreichen Leuten, die einem im Notfall halfen, vorausgesetzt, man half ihnen auch seinerseits – bis hin zu Ungesetzlichkeiten. Die Parteimitgliedschaft war nicht nur der einzige Weg, auf dem man Karriere machen konnte, sondern auch die einzige Chance, an einen Beruf zu kommen, der einem entsprach und in dem man seine Fähigkeiten zur Geltung bringen konnte. Im Frühjahr 1989 war daher der Zustrom von intelligenten und talentierten Bulgaren in die Partei ungebrochen – nicht, weil sie Idealisten waren, sondern aus der Einsicht heraus: »Das Leben ist kurz, der Sozialismus währt ewig!« So jedenfalls sah es bis zum letzten Moment vor dem Umsturz aus …
    Genau diese Kader aus der mittleren und gehobenen Parteienhierarchie waren nicht einfach nur verunsichert, sondern verblüfft bis zu panischem Entsetzen. Diese Leute hatten zum größten Teil ihr Studium in der Sowjetunion absolviert und kannten die schillernde Unbestimmtheit in der Sprache der Machthaber aus eigener Erfahrung. Sie wussten: Wenn »die da oben« etwas sagten, musste man sich etwas anderes denken und etwas noch ganz anderes tun, und dafür musste man die richtige Übersetzung kennen. Über Demokratisierung redete man ja nicht erst seit Gorbatschows Machtübernahme, sondern immer dann, wenn innerparteiliche Rechnungen beglichen wurden, Konkurrenten um einen Posten beseitigt wurden, oder wenn zur Herausstellung der eigenen Berechtigung an der Machtübernahme die ganze Schuld

Weitere Kostenlose Bücher