Seelenasche

man ungekämmt und unrasiert, unausgeschlafen und mit quelläugigem Enthusiasmus die eigene Vergangenheit gleich mit bestreikte. Die meisten waren vom kommunistischen System gehätschelte Vorzeige-Kopfarbeiter gewesen, und Emilia kannte sie schon lange. Wenn diese selbsternannten Dissidenten jemals etwas Ketzerisches gesagt hatten, so war es nur, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und sich ins Scheinwerferlicht zu rücken. Und eben unter diesen Gestalten hatte sie mit neckischer Zwergenkappe und theatralisch auf abgewetzt und zerkratzt gemachter Jacke auch Naidenov gesehen.
    Â»Und?«, fragte er rhetorisch.
    Â»Ich denke, es könnte unterhaltsam und dem Zuschauerinteresse förderlich sein, wenn Sie ein Musical inszenieren würden. Das Ensemble ist groß, fast jeder kann auch brauchbar singen …« Erwartungsvoll schaute sie Naidenov an, doch dessen Gesicht blieb ungerührt. »Nehmen Sie beispielsweise solche Titel wie Hair oder Cats .«
    In dem nun folgenden Schweigen hätte man sich erkälten können, wenn nicht der Kaffee gewesen wäre. Dann begann Naidenov mit jener übertriebenen Herzlichkeit zu reden, mit der wir hoffen, uns eines unangenehmen Eindringlings rascher zu entledigen. Er sagte, ja, das Ensemble sei wirklich sehr groß, »geradezu aufgebläht in Anbetracht der neuen Umstände«, und dass mit den Einnahmen dieser »hundert Leutchen«, die sich auf den Stuhlreihen pro Vorstellung verlören, nicht einmal der Strom bezahlt werden könne. Die Marktwirtschaft treffe, wie sich nun herausstelle, leider am schnellsten und schmerzhaftesten die Kunst. Den Leuten sei jetzt nicht nach Kultur und geistigen Werten, sondern nach einer Antwort auf die Frage, wie sie etwas in den Kühlschrank bekommen sollten. Zufrieden rieb Naidenov sich die Patschhändchen, die immer schwitzig waren und übertrieben reinlich; sie glichen verdächtig denen Theo Sotirovs.
    In diesem Moment spürte Emilia die Gefahr und erschauerte. Sie musste jetzt blitzschnell reagieren, die wertvolle Porzellantasse fallen lassen oder wenigstens den Kaffee in ihrem Schoß verschütten, mit entsetztem Aufschrei zur Toilette laufen und einfach nicht wiederkommen; doch sie war so hypnotisiert von seinen hervortretenden, wie von einer angelaufenen Glasur überzogenen Augen, dass sie wort- und tatenlos sitzen blieb. Ihr war einfach schlecht geworden.
    Naidenov setzte ein Lächeln auf, das verlegen wirken sollte, aber einfach nur gemein war und sagte: »Aus diesem Grund müssen wir einigen unserer älteren Kollegen die Gelegenheit geben, ihren wohlverdienten Ruhestand anzutreten.« Er schob ihr das Blatt hin, das er vor wenigen Minuten unterschrieben hatte, und sie war so dumm, es entgegenzunehmen und in ihrem Damenhandtäschchen zu verstauen. »Mir ist selbstverständlich vollkommen klar, Frau Weltscheva, dass das Theater der vielleicht wichtigste Teil Ihres Lebens ist, gleichsam Ihr zweites Zuhause, aber ich darf Sie versichern, dass Sie nicht nur im Gedächtnis, sondern auch im Herzen des Publikums bleiben werden, und in den unseren natürlich. Wie Sie da aus dem Schatz Ihrer reichen Erfahrung, also … Ja, Ihr Vorschlag mit dem Musical ist interessant und bedenkenswert, eine Idee mit Perspektive …«
    Er drehte seine Tasse auf dem Untersetzer um und schlug das Kreuz über ihr.
    Emilia stand auf. Es gelang ihr, Haltung anzunehmen, ohne zu taumeln oder in Ohnmacht zu fallen. Sie war schon an der Tür, als er noch einmal nachstieß:
    Â»Und einen speziellen Gruß an den Herrn Professor!«
    So gab man zu verstehen, dass Assen Weltschev eine Gestalt aus der Vergangenheit war, einer Vergangenheit, die nichts mehr galt, und dass man daher keinerlei Veranlassung mehr sah, vor Gestalten wie ihm ängstlich den Kotau zu machen.
10
    Schweißgebadet erwachte er. Er hatte eine Szene aus seiner Kindheit geträumt, er mochte so fünf, sechs Jahre alt gewesen sein, die auf einmal zu einer schrecklichen Metapher, einem erschreckenden Vorzeichen wurde. An einem 5. Mai, dem St. Georgstag, im Volk auch Ederlez genannt, hatte sein Vater ihn ins Zigeunerviertel geführt, wo dieser Tag eines der größten Feste im Jahreskreis ist. Der Tag war frühlingshaft, aber kalt gewesen. Von irgendwo quiekte eine verlorene Klarinette, Hühner stolzierten über den Hof, gefolgt von einem großen, wilden Hahn. Auf der Feuerstelle wurde Zinn