Seelenasche
wahrer Demokratie zusammen mit den drastischen und kein Ende nehmenden Veränderungen hatten seinen ganzen Status hinweggefegt und damit auch seine eben erst errungene innere Ruhe. Schon wieder war er gezwungen, Entscheidungen zu treffen und dabei alle Formen der Angst, des Bangens und der Ungewissheit zu durchleiden.
Theodora hatte mit geradezu erpresserischer Inständigkeit darauf bestanden, dass er seine Mitgliedschaft bei der Bulgarischen Kommunistischen Partei beendete, die sich rechtzeitig vor der ersten groÃen freien Parlamentswahl im Juni 1990 in Bulgarische Sozialistische Partei umbenannt hatte, und er trat dem Alternativen Sozialistischen Bund ASB bei, der unter Berufung auf sozialdemokratische Traditionen einen Wandel mit sozialer Verantwortung versprach und so etwas wie der Rettungsring für Abtrünnige war. Der ASB ging direkt in die Opposition und verhandelte mit der Union der demokratischen Kräfte UDK und anderen Parteien, die ihre Wiederauferstehung nach über vierzig Jahren feierten. Alexander geriet in Panik bei dem Gedanken, dass Professor Kotzev, sein Schwiegervater, von seinem »Verrat« erfahren und ihn in einem seiner legendären Anfälle von Jähzorn aus der gemeinsamen Wohnung werfen könnte. Doch er vergaà auch nicht Theodoras auf die Zukunft gerichtete Argumente, die sie einmal bei einem Gespräch in seinem Sprechzimmer vorgebracht hatte:
»Da bist du aber gerade eben noch auf den letzten Zug aufgesprungen, mein Schatz. Dank meines Insistierens hast du ihn nicht verpasst und bist dem ASB beigetreten. Aber du kannst dich auch nicht ständig unter der Decke bei meiner kleinen Miezekatze verstecken â¦Â«
»W-w-wie meinst du das?«
»Na, du musst jetzt an die Ãffentlichkeit gehen, dich abgrenzen von deiner verknöcherten Sippe mit ihrem rückständigen Sozialismus und dich in deinem vollen Glanz zeigen, am besten, indem du dich als Opfer von Repressionen darstellst.«
»Aber ich bin doch gar kein Opfer von Repressionen«, versuchte er zu widersprechen. »Das nimmt mir doch kein Mensch ab!«
»Vorher haben doch auch alle so getan, als seien sie Partisanen und antifaschistische Kämpfer gewesen. Streiter gegen den Kapitalismus sowieso ⦠Jetzt sehen unsere kleinen Wendehälse eben zu, sich zu groÃen Demokraten zu erklären. Was ist denn daran so schlimm, wenn du ein bisschen Lärm schlägst als einer, der für seine freigeistigen ÃuÃerungen von der Zensur eins auf die Finger bekommen hat? Sicher wird dir das keiner abkaufen, aber es wird auch keiner bestreiten. Genosse Weltschev, die Leute müssen dich in anderem Licht sehen, und das geht nur, wenn du mal einen Schritt zur Seite tust.«
»Und was sollte ich deines Erachtens jetzt tun?« Die Ironie in ihrer Stimme hatte ihm spürbar wehgetan.
Für sich selbst überraschend horchte er plötzlich in den Raum, stand sogar auf, öffnete die Tür zum Gang einen Spalt und spähte misstrauisch hinaus. Nach der letzten Unterrichtseinheit für diesen Tag sah der Korridor öde und verlassen aus. Theodora erfasste sofort den Grund seiner ängstlichen Abhörkontrolle und lachte hysterisch, was ihm erneut einen Stich gab. Gleich darauf wurde ihr Gesicht kalt und hart. Sie holte aus ihrer Handtasche einige Blätter und warf sie ihm auf den Schreibtisch. Beim Lesen brach ihm der Schweià aus vor Verzweiflung und Entsetzen. Bei dem Text, den er da las, handelte es sich um eine kluge, in gewissem Umfang sogar zutreffende Rezension gegen das Buch seines Vetters Assen Weltschev über Demokratie. Theodora hatte diesen skandalösen und rufmörderischen Artikel selbst verfasst, aber als Autor seinen Namen darunter getippt.
»Nein, das kann ich nicht ⦠Das habe ich 1957 schon mal gemacht. Damals haben sie mich kaltschnäuzig benutzt, aber damals war ich jung und unerfahren.«
»Und ich habe beim Schreiben genau darauf gesetzt: dass du jetzt alt und erfahren bist.«
»Damals hat er meinen Schritt verstanden und mir verziehen, aber jetzt ⦠Das kann ich einfach nicht tun.«
Theodora lachte verächtlich, beugte sich vor. Ihre Hand glitt in gespielter Fürsorge und Zärtlichkeit in Richtung seines Hosenstalls, dann griffen ihre Finger zu und quetschten seine Hoden zusammen. Der Schmerz war unerträglich.
»Natürlich kannst du, Herr Weltschev!« Ihre Stimme war leise und von eisiger Ruhe.
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