Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Seelenasche

Titel: Seelenasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Zarev
Vom Netzwerk:
völlig gleich, was du sagtest, denn dein ganzes Reden war ein raffiniertes Rauschen, ein klangvolles Schweigen. Wichtig war nur, dass du da warst, auf dem Bildschirm, und wir konnten nicht ohne dich. Ich hab dir so was von nachgeeifert, wollte so sein wie du und es hinkriegen, Lüge und Betrug in Kunst zu verwandeln.« Nach diesem Bekenntnis goss sie sich noch einen Wodka ins Glas und fuhr fort, ohne ihren Blick von der leeren Ecke abzuwenden: »Meister Weltschev, Guru des Schaustellergeschäfts und der Kulissenwahrheiten, willste mal sehen, wo ich eine Laufmasche hab?«
    Â»Nein«, hatte er auch da abgewehrt, »ich will einfach nur noch ins Bett, ich bin müde.«
    Diese irritierende Befangenheit, die ihn daran hinderte, sich mit Frauen einzulassen, rührte nicht von übertriebener Sittlichkeit her oder einem perfiden moralischen Masochismus. Die Hürden, die er psychisch nicht überwinden konnte, waren wohl eher diese: Die erste bestand in einem penetranten Schuldgefühl, das ihn zunehmend peinigte. Seit »Neda von uns gegangen« war, lebte er ständig in der Vergangenheit und wühlte in den Erinnerungen an die Jahre ihrer Beziehung wie ein Bettler im Müll. Er machte sich Vorwürfe. Verrückt: Während Jordan die ganze Zeit eifersüchtig auf Psychoguru Grischa gewesen war, hatte Neda die Gesellschaft eines gestörten Eigenbrötlers gesucht, um vor sich selbst beweisen zu können, dass sie von irgendjemandem gebraucht wurde.
    Die zweite Hürde musste in Zeiten, in denen die Menschen vom Sozialismus her an die Promiskuität als einzige Freiheit gewöhnt waren, geradezu blöde, unerhört und unglaublich klingen, aber das änderte nichts daran: Das Gefühl der Bindung an Neda war einfach so stark, dass es auch nach ihrem Tode nicht aufhörte. Manchmal hatte er das Gefühl, Neda sei nur eben mal rausgegangen und werde bald wiederkommen mit ihren Absonderlichkeiten, ihrem Schweigen, und der unglaublichen Durchsichtigkeit ihres Leibes. Einmal glaubte er sie neben sich im Bett zu spüren. Er öffnete die Augen, und da lag sie, dezent sich abhebend vom Dunkel der Nacht, an ihn geschmiegt, schwer vor Müdigkeit und Sehnsucht, und doch schwebend vor Schlaflosigkeit. »Warum bist du erwacht«, sagte sie, »jetzt muss ich leider gehen.« »Bleib doch!«, bat er. »Wie gerne würde ich … Mir ist kalt dort!« Neda erschauerte. »Dort ist mir so kalt, wie mir früher hier bei dir kalt war.« »Bleib!«, bat er noch einmal. »Nirgendwo schaffe ich es, mich selbst zu finden.« Sie stützte sich auf den Ellbogen, lächelte, schaute ihm in die Augen. »Da im Jenseits bin ich nicht glücklich, und hier war ich auch nicht glücklich. So als wäre ich bloß zufällig hier oder da hingeraten.« »Zufällig?«, fragte er, nur um das Gespräch nicht abreißen zu lassen. »Ich wollte sagen, auch dort bin ich nur vorübergehend, so wie hier.« Sie warf die Decke von sich, glitt aus dem Bett, stand auf. Ihre Nacktheit leuchtete weich. Er sah, wie sie sanft in der Luft verglühte, aufgetrunken vom Schatten der Vorhänge, die nur ihre Arbeit erledigten: zu verbergen, zu trennen.
    Diese Vision war so real gewesen, dass er, schweißgebadet vor Entsetzen und ohne zu bemerken, wie es dazu kam, in einer plötzlichen religiösen Ergriffenheit zu beten anfing. Jordan hätte nicht sagen können, ob er an Gott glaubte. Anders als Dessislava hatte er die Passagen aus der Bibel, die Jonka ihm als Kind vor dem Einschlafen vorlas, als reichlich didaktische Lehrgeschichten empfunden, die auch vor offenen Drohungen an die Adresse der Leser nicht haltmachten. Davon unberührt gab es in ihm aber ein der Analyse nicht zugängliches mystisches Gefühl, das so tief in ihm steckte wie die kindliche Angst vor der Dunkelheit, das aber in der Folgezeit regelrecht totgeprügelt worden war durch die ständige Gehirnwäsche der sozialistischen Erziehung, für die die menschliche Seele nichts als ein Wurmfortsatz des dialektischen Materialismus war. Für alles Sichtbare und Erschließbare, das Mögliche und das Unmögliche präsentierte der Sozialismus sich als Lösung und hatte aus Jordan einen verkrüppelten Halbgläubigen gemacht oder – besser gesagt – einen, der am Atheismus zweifelte . Wenn Gott ohne Anfang und ohne Ende, also von unendlichem Gehalt war, dann hatte

Weitere Kostenlose Bücher