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Seelenasche

Titel: Seelenasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Zarev
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ängstlichem Lächeln Signale vorauseilender Dankbarkeit aus, vor allem aber ließ sie es an Schmeicheleien nicht fehlen und jener Unterwürfigkeit, mit der alte Bauersfrauen sich in Erwartung eines göttlichen Wunders vor heiligen Ikonen verneigten.
    Die Schokopraline hatte ein scharfes Hungergefühl bei Dessislava geweckt. Wenn sie aber hungrig war, wurde sie böse und unverschämt; sie musste also sehr aufpassen. Sie biss sich auf die Unterlippe, um nicht zu vergessen, dass sie sich gefügt hatte. Sie hörte fast gar nicht, was sie redeten, denn in der Ecke dröhnte das Kassettendeck der Philips-Stereoanlage, die Theo ebenfalls im Korekom erstanden hatte. Die Beatles waren mit ihrer Anthology mal wieder in Mode gekommen. Der mehrstimmige Gesang ihrer Lieder mischte sich mit den Stimmen der Sprechenden zu einer bekannt wirkenden, rhythmisierten Tonlosigkeit. Ein Sommerregen trommelte gegen die Fensterscheiben, sodass sie von innen beschlugen; doch Abkühlung brachte auch er nicht. Dessislava fragte sich, warum die beiden Erwachsenen diesen Whisky eigentlich tranken? Das viele Eis war geschmolzen, und geblieben war die Farbe dünnen Kräutertees.
    Â»Dess muss einfach an die Akademie«, wiederholte ihre Mutter gerade müde und stampfte kapriziös mit dem Fuß auf.
    Â»Na, dann pass mal auf, Kindchen«, wandte sich Sotirov plötzlich ihr zu, »du weißt sicher, dass die Kommission am Ende der Prüfung eine Art Eignungstest macht. Wir wollen damit das spontane Reaktionsvermögen und das künstlerische Gespür des Kandidaten auf die Probe stellen. Und genau dieser Test ist entscheidend für das Fach Regie. Der künftige Regisseur braucht innere Freiheit, Einbildungskraft und ein Gefühl für Situationen, vor allem für das Flüchtige darin. Wenn du also morgen deinen Text absingst …«
    Â»â€¦ den Monolog der Nina Zaretschnaja«, warf Emilia ein und bekam eine krampfhafte Hitzewallung unter ihrem Sonnengeflecht.
    Â»â€¦ also wenn du deinen Monolog runterrasselst, dann werde ich dich plötzlich unterbrechen und sagen: ›Und jetzt, Verehrteste, verjagen Sie uns Kerle von hier, alle, wie wir hier sitzen.‹ … Vor dem Podium liegt, wie du weißt, ein langer persischer Läufer. Ohne Hast, aber auch ohne lange nachzudenken, schnappst du dir dessen Ende und fängst an, den auszuklopfen, aber volle Pulle, hörst du, bis wir alle von der Bildfläche verschwunden sind. Sei ganz ruhig, das Ding ist so schmutzig und verstaubt, dass die Aufgabe für dich nicht allzu schwer sein dürfte. Wenn du an die Sache mit der nötigen Expressivität und Chuzpe rangehst, aber wirklich ohne Rücksicht auf Verluste, sag ich dir, dann wirst du das Vergnügen haben, in meine Klasse aufgenommen zu werden.«
    Bevor sie antworten konnte, musste Dessislava erst einmal schlucken. Sie musste Sotirov wohl brav gedankt haben, denn er bot ihr noch eine Praline an. Die Kassette im Deck der Philips-Stereoanlage hatte sich von selbst ausgeschaltet, und genau dasselbe war auch in ihrem Inneren passiert. Was sie aber voller Erleichterung spürte: Ihr Vater war gerettet!
    Â»Theo«, klatschte ihre Mutter begeistert, »du bist einfach genial, und dazu noch ein wirklicher Freund.«
    Â»Dummes Zeug«, fuhr er ihr in die Parade, »ich bin einfach Gott und hatte heute Audienz.«
11
    Betrunken und enthemmt, fragte sie sich: Also sie lassen sich wirklich scheiden, meine Eltern? Sie fühlte sich um mindestens fünf Kilogramm leichter, dabei hatte sie doch höchstens eine halbe Stunde geweint! Leiden war anscheinend die beste aller Diäten. Na, da hatte sie ja, was sie Maja morgen empfehlen konnte, wenn Hamlet, Ophelia und die Verzweiflung der ganzen Menschheit sie wieder erwarteten. Aber heute?
    Das erlöschende Fenster kam ihr nun wie ein dunkler Vorhang vor, hinter dem sich ein heiliges Ritual vollzog. Die Wodkaflasche hatte sie schon zur Hälfte geleert. Sie spürte eine leichte Kälte im linken Fuß, suchte ihren Wollstrumpf auf dem Bett ihres Vaters und entdeckte ihn zwischen zwei Ausschnitten aus der Zeitschrift Theater . Erst ribbelte sie den gerade begonnenen Pullover wieder auf, den sie Evtimov hatte schenken wollen; dann begriff sie, dass ihr das Wichtigste bevorstand.
    Um es ausführen zu können, durfte sie nicht an Jonka denken, die würde es ihr verboten haben! Sie streifte den Strumpf über und

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