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Seelenasche

Titel: Seelenasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Zarev
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stand. Dank der Fürsprache Koitschevs, der das finanzielle Elend der Marijkins nicht länger hatte mit ansehen können, war er hier als Wächter eingestellt worden. Doch bald erkannte der alte Krum, dass dies auch eine Art war, an den Umbrüchen beteiligt zu sein, indem er ihnen im Weg stand und jenes Werk schützte, an dessen Bau er maßgeblichen Anteil hatte. Sogar dessen erwiesene Unrentabilität bildete noch eine derart auffallende Parallele zu seinem eigenen Leben, dass er sich nicht ganz so verlassen fühlte. Was ihm überdies gut passte, war die Arbeitszeit. Er verbrachte vierundzwanzig Stunden in der Pförtnerloge am Feuerschutzturm und hatte danach zwei volle Tage frei. Auf diese Weise rettete er sich wenigstens zeitweilig vor der beklemmenden Fürsorge seiner Frau und konnte rauchen, wann und so viel er wollte.
    In der einen Hand hielt der alte Marijkin die Handschuhe, die Newena ihm gestrickt hatte, in der anderen ein Gewehr, das der Vitrine eines Freischärler-Museums hätte entnommen sein können. Es war jedenfalls alles andere als klar, ob dieses vorsintflutliche Schießeisen überhaupt funktionierte, und wenn, ob der verrostete Lauf bei der Explosion der Zündkapsel nicht barst. Zum Zeichen guter Hoffnung war es aber mit sechs Patronen geladen. So kam es, dass Krum Marijkin in vorgerückten Jahren noch seinem Schwiegervater zu gleichen begann, dem alten, tapferen und unbeugsamen Partisanen Zonjo Metschkarski, der vor über vierzig Jahren die Zigarettenfabrik nach ihrer Verstaatlichung bewacht und mit einem Gewehr, das genau dieses hätte gewesen sein können, auf den ehemaligen Fabrikbesitzer Kiskinov einen Schuss mit Todesfolge abgefeuert hatte.
    Der alte Marijkin nahm seinem Sohn die Ledermappe mit den Dokumenten ab, schaute sie sich aufmerksam an, las, was zu lesen war, verstand aber nichts und spuckte vor Ärger auf den Boden, bevor er fragte:
    Â»Und wo bringt ihr die hin, die Drehbänke?«
    Â»Ins Werk für Pumpenbau, da brauchen sie die wohl.«
    Â»Für die Pumpenherstellung, das geht«, gestattete der alte Marijkin großzügig. »Aber wenn du mich verarschst … Ich prüfe das nach, nur dass du Bescheid weißt.«
    Ein munteres Stimmengewirr kündigte an, dass die Zigeuner anrückten, sorglos und mit leichtem Gemüt, dafür aber umso schwereren Schraubenschlüsseln. Beim Anblick so vieler Tonnen Eisen, die man verkaufen konnte, bekamen ihre Augen einen weihnachtlichen Glanz. So hoch konnten sie gar nicht rechnen, wie das hier …
    Krum Krumovs Gedanken waren aber ganz woanders. Es begann als Empfindung auf der Haut, setzte sich fort als körperlicher Schmerz und endete in einer Art Krampf. All das, was ihn hier umgab, so begriff er auf einmal, atmete nicht mehr, lag ein für alle Mal brach und würde nie mehr etwas produzieren. So wie die megalomanen Hoffnungen seines Vaters war dies hier ein gigantischer Toter, verurteilt zu Verfall und Vergessen. Und als hätte der alte Marijkin etwas von dem gespürt, was in seinem Sohn vorging, hüstelte er warnend, warf seine Zigarette fort, steckte sich eine neue an und fragte jene vieldeutige Frage, die er als Schrecken der Widiner Gegend bei der gewaltsamen Enteignung von Land, Vieh, Fabriken und Firmenbesitz so oft wiederholt hatte, bis er im ganzen Bezirk sprichwörtlich geworden war:
    Â»Warum wollen die Menschen nicht glücklich sein?«
5
    Der Morgen war sonnig, in der Luft lag etwas Einladendes. Der warme Wind blies die Straßen trocken und wehte das Laub von den Bäumen. Krum ging durch den Haupteingang des ehemaligen Bezirkskomitees, seine Schritte hallten durch die marmorverkleideten Gänge dieser gewaltigen Grabstätte einer allmächtigen Partei. Tscholevs Leibwächter waren so vertieft in ihr Bridge-Belote-Spiel, dass sie seinen Gruß nicht erwiderten. Sie sahen aus, als hinge vom Ausgang dieses Kartenspiels die Zukunft der ganzen Menschheit ab.
    Im Zimmer der Sekretärin hingegen war auch diesmal nichts los. »Zezi«, eigentlich Zwetana, trug nur ein T-Shirt mit der Aufschrift »I love you« über dem unvermeidlich von Amors Pfeil durchbohrten Herzen. Auch diese T-Shirts wurden aus der Türkei importiert und auf dem Markt oder an Straßenständen verkauft. Ihr Minirock wirkte diesmal noch kürzer; vielleicht lag das aber nur an dem grellen Orange des glänzenden Lackleders. Sie saß hinter ihrem

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