Seelenasche
Grigorovs las mit seiner geduldig entwickelten Logik und seinem unverhüllten Zynismus, wollte er sich am liebsten lossagen von diesem Experiment, in das ihn der zufällige Lauf der Ereignisse und die bittere Ironie des Schicksals getrieben hatte. Er hatte deshalb um ein erneutes Treffen mit General Grigorov gebeten, doch dieser hatte das Innenministerium verlassen, ohne Angaben über seinen Aufenthaltsort zu hinterlassen. Als er Oberstleutnant Petrov anrief, was er ja nur im Extremfall tun sollte, blaffte ihn dieser mit seiner müden und angeekelten Stimme an: »Herr Weltschev! General Grigorov ist schon vor geraumer Zeit in die Reserve gegangen, und ich unterhalte keinerlei nähere Beziehungen mit ihm. Wir treffen uns nur, wenn er sich bei mir meldet. Bitte beschäftigen Sie mich nicht ständig mit Ihren Launen; im Unterschied zu Ihnen gibt es auch Leute, die arbeiten.«
Trotz der frühen Stunde bereitete er sich also schon im Flugzeug nach Berlin vor, indem er drei Whisky trank. Der Alkohol entspannte ihn und gab ihm, wenn schon nicht die Ausgeglichenheit und Selbstsicherheit, so doch jenes einem Lächeln ähnelnde Etwas wieder, mit dem er sich am frühen Morgen von seiner Mutter verabschiedet hatte. Nun aber, als er durch die langen, vergilbten und verwaist wirkenden Gänge, Abflug- und Schalterhallen des alten DDR-Flughafens ging, zog ihn das aufdringliche Gefühl von Verlassenheit und Vergänglichkeit erneut zurück zu seinen unwirtlichen Gedanken, füllte sich sein Körper wieder mit den elektrischen, schweiÃtreibenden Strömen der Angst. Er suchte eine Raucherbar auf und bestellte sich noch einen Whisky. Wie hieà das hier, wenn man einen groÃen haben wollte? Was hier »doppelt« hieÃ, war in Bulgarien nicht mal ein kleiner, ein halber Whisky. Als er sich den vierten doppelten bestellte, schaute ihn der Barkeeper misstrauisch aus wasserblauen Augen an und bat ihn, erst einmal zu bezahlen. Das dicke Bündel mit den Banknoten zu einhundert D-Mark verstörte ihn vollends, und er lieà verächtlich durchblicken, was er davon hielt.
Verletzt zog sich Christo in den hinteren Winkel ans Fenster zurück, durch das ein Licht von der Farbe strömenden, alles verwischenden und verwaschenden Landregens drang. Ohne es zu wollen, musste er an die Vermutungen des Generals denken, die ihn mit ihrer Genauigkeit frappiert hatten. Besonders seine weiterführenden Schlussfolgerungen, dass er, Christo, unter Gefahr, sich selbst in Gefahr zu bringen, vorsätzlich allerlei Mistkerle, rücksichtslos auf ihren Vorteil bedachte Egoisten und opportunistische Perverslinge denunziert hatte, hatte sich in sein Bewusstsein eingebrannt. Ach ja, und dann auch noch dies: So haben Sie Ihre in diesen zynischen Zeiten kaum noch aufrechtzuerhaltende, immer seltener anzutreffende Gewissensreinheit bewahrt und sich, indem Sie scheinbar fieser Denunziant waren, für jene Gerechtigkeit eingesetzt, die uns in den Kämpfen des realen Lebens verlorengegangen ist.
Intuitiv und ohne groà nachzudenken, hatte Christo einige Male in der Tat genau so gehandelt und Widerlinge ans Messer geliefert, die mit ihrem skrupellosen Zynismus und ihren abscheulichen Taten nicht einfach nur einen Tadel oder einen Denkzettel verdienten, sondern eine Bestrafung von der Art »Auge um Auge, Zahn um Zahn«, eine biblische, eine aus heiterem Himmel sie ereilende furchtbare Vergeltung. Wie er so dasaÃ, unbequem auf seinen Ellbogen gestützt und auf sein undeutliches Spiegelbild in der beschlagenen Scheibe starrend, erinnerte er sich plötzlich an das erste Mal, dass er gezielt aus diesem Grund einen Bericht geschrieben hatte.
Es war 1973 gewesen, und Christo war zum Wehrdienst eingezogen worden. Er kam nach Plewen auf die Reserveoffiziersschule. Er hatte das Pech, zum Heer eingeteilt zu werden, und zwar zum Ersten Heeresbezirk, der sich im Stadtzentrum befand und aus einem hektargroÃen Appellhofplatz bestand, der von einem alten Kasernengebäude aus türkischer Zeit umgeben war. Der ganze, in inzwischen verblasstem Ocker gestrichene Komplex glich in seiner Unwirtlichkeit â obgleich im Stadtzentrum gelegen â tags einem Kloster, abends einem Gefängnis, in dem Rekruten auf Befehl brüllender Unteroffiziere ihre absurden Märsche tanzten. Darüber flatterte der Himmel, ein Taschentuch, das, zum Abschied gezogen, das einzige Fetzchen Leben war, in dem man sich den
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