Seelenasche
Staub aus den Augen wischen konnte. Ihr Schlafsaal war mit zweistöckigen Eisengestellbetten bestückt, mit Holzspinden und zwei Propagandaplakaten, auf denen ein Offizier den Finger auf den Mund gelegt hatte. Darunter stand: »Militärisches kommt uns nicht über die Lippen« und »Wir wahren das Militärgeheimnis strengstens!« Es gab auch einen gusseisernen Kanonenofen. Im Winter wurden ihnen dafür drei Eimer Kohle zugeteilt, mit denen die sechzig Kameraden im Saal sich bis zum Morgen wärmen mussten. Sechzig zu Tode gelangweilte Männer â man kann sich vorstellen, wie es hier nach einem Gewaltmarsch roch: nach feuchten Armeestrümpfen und stinkenden FüÃen, nach scharfem Schweià und muffigen, zerknitterten Laken, nach billigem Rasiersalon und Rasierwasser. Wenn man tief einatmete, konnte man auch den bittersauren Geruch unbefriedigten Sexualtriebs erschnüffeln, der immer auf der Kippe stand, sich gewaltsam zu entladen, und meist in nächtlicher Selbstbefriedigung endete.
Zum Entsetzen der Offiziersschüler befand sich hier am Ort auch das Stabsquartier der Einheit, sodass es nur so wimmelte vor Offizieren. Die mit den hohen Rängen sahen gut genährt aus, manche waren geradezu fett geworden vor Untätigkeit, aber auch frustriert vom Widerspruch, einerseits fast unbeschränkte Befehlsgewalt zu haben, andererseits aber selbst unbedingt zum Gehorsam verpflichtet zu sein. Sie konnten nach unten treten, ja, zertreten, ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden, lebten aber in der ständigen Befürchtung, dass die über ihnen dasselbe mit ihnen machten. Sie kaschierten das, indem sie so taten, als hätten sie es andauernd eilig. Sie benahmen sich zackig, ja, mit herausgekehrter männlicher Schroffheit, aber darin lag auch etwas beinahe weiblich Kokettes, fesch Gestyltes. Dass nur ja keiner auf die Idee kam, sie seien überflüssig!, gab es doch wirklich so viele von ihnen, dass man gar nicht wusste, wo man sich vor ihnen in Sicherheit bringen sollte, auÃer in den stinkenden Hock-Toiletten. Christo hielt sich dort mit Vorliebe auf und bekam so regelrecht einen Riecher dafür, dass die Freiheit, die ersehnte Freiheit manchmal eben nicht nach Rosen duftete. Diese Toilettenflanke der Kaserne war so groÃ, dass sie die gesamte Kompanie aufnehmen konnte und ein paar Ratten dazu. In dieser Latrine war es im Sommer erstickend heiÃ, im Winter eisig kalt. Wärme stieg nur aus den Löchern in der Mitte der Abtritte auf. Dennoch war dies Christos Lieblingsaufenthaltsort, denn nur hier konnte er ungestört mal ein paar Seiten in einem Buch lesen oder von seiner Tante Emilia träumen.
Die Befehlsgewalt in der Kaserne war nicht bloà erniedrigend, sondern auch völlig schwachsinnig, berief sie sich doch auf etwas GroÃes und Erhabenes, das man leider nie zu Gesicht bekam. Christo reagierte darauf zunächst mit ohnmächtiger Wut, dann nahm er die Sache von der unterhaltsamen Seite, und schlieÃlich sah er in ihr ein Sinnbild für des Lebens Wahnwitz insgesamt. Das Erste, woran er sich stieÃ, war die primitive Gewalt bei der Grundausbildung. Auch ihm blieb nicht erspart, den bärtigen Wiedergeburtspoeten Christo Botev, dessen Porträt in einem Glasrahmen an der Wand hing, »zu rasieren«, richtig mit Rasierschaum und Rasierklinge. Bei der »Abnahme« der Arbeit ereiferte sich der Spieà künstlich: »Was is das denn? Nix is das! Du solltest den groÃen Woiwoden rasieren, und was sieht mein entzündetes Auge: Sooo einen Bart! Das machen wir noch einmal!« Manchmal ging diese Schikane die ganze Nacht. Bei Rekruten, die ihren Stolz hatten, auch über Monate. Eine andere Lieblingsnummer des »Stuffz« war, ihn den Schlafsaal, einen Raum von über fünfundzwanzig Meter Länge, mit einem Zahnstocher ausmessen zu lassen, und jede andere Antwort als dreihundertsiebenundneunzig und ein halber Zahnstocher bedeutete, dass die Ãbung wiederholt werden musste. Ein paarmal wurde er in einen Sack gesteckt und herumgeschubst, wobei sie ihm das Nasenbein brachen. Grund: Er hatte vor seinem Kommandanten nicht salutiert, der sich natürlich absichtlich im Schatten der Kantine versteckt hielt, um dort wie eine Spinne auf seine Opfer zu warten. So eine Kaserne diente offenbar dazu, alles Individuelle, alle Unterschiede zwischen den Menschen auszulöschen. Dort wurde nicht einfach nur Gehorsam verlangt,
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