Seelenasche
Kräfte bündeln müsse, um den günstigen Moment zu nutzen. Aber ⦠er hatte einfach keine Lust, dem Mann Komödien vorzuspielen, ergriff dessen trockene Hand und antwortete flapsig:
»Das frage ich mich auch!«
Sie gingen hinaus. Es war kühl und nieselte. Weder Kissoff noch ihm war nach Schlafengehen zumute, sondern nach einem ganz primitiven Besäufnis, sei es, um sich überhaupt noch in die Augen schauen, sei es, um das Ganze einfach schneller vergessen zu können. Der Einfachheit halber gingen sie wieder ins Hofbräuhaus und setzten sich an den einzigen noch freien Tisch neben der Toilette. Christo bestellte einen doppelten Whisky, Georg einen MaÃkrug von dem naturtrüben Hausbräu. Sie wiederholten das Ganze in stiller Ergebung, bis das Gasthaus um Mitternacht schloss. Christo lud ein und bezahlte mit dem Geld, das er von Grigorov bekommen hatte.
Als sie sich zum Abschied die Hand gaben, musste er irgendetwas sagen.
»Na, Georg, von heute an haben Sie dank Ihrer sechs Prozent Anteil die Freiheit, die Beine hochzulegen und nichts zu tun. Mit drei Millionen â¦Â«
»Und ich dachte, Sie wären nicht so einer«, sagte der alte Mann im Schatten der StraÃenbeleuchtung versonnen.
»Das bin ich eigentlich auch nicht«, erwiderte Christo heiser.
»Werâs glaubt ⦠Ich habe jedenfalls keine Veranlassung mehr, Ihnen irgendetwas zu glauben. Zu meinem aufrichtigen Bedauern haben Sie sich eben doch als so einer herausgestellt, Herr Weltschev!«
14
Als er die Wohnungstür aufschloss, empfing ihn eine Stille, die nichts mit der bergenden Stille seiner Kindheit zu tun hatte, sondern die sprachlose Stille der Verzweiflung, des echten Unglücks war. Durch den Glaseinsatz der Tür zum Wohnzimmer sickerte trübe das Licht, gespenstisch, als käme es von einem anderen Planeten. Christo seufzte, stellte den Koffer an die Wand, legte auch sein Diplomatenköfferchen und die Tüte mit den Geschenken aus dem Duty-free-Shop ab.
Vom Ende des langen, düsteren Korridors waren schlurfende Schritte in ausgetretenen Pantoffeln zu hören. Als kaum spürbare Luftbewegung drang zu ihm der Starrsinn, die Dickköpfigkeit eines hilflosen Menschen, der nichts mehr hatte als das Rechthaben und es verbissen gegen die Altersschwäche verteidigte. Der unverwechselbare Geruch nach Baldrian und Gewaltsamkeit näherte sich mit kraftlosen, schleppenden Schritten, bis schlieÃlich sein GroÃvater vor ihm stand. Auf Haut und Knochen abgemagert, vollkommen kahl, aber mit Haarbüscheln in Nase und Ohren. Er war in Schlafanzug und Bademantel an diesem frühen Nachmittag, als tauche er auch jetzt nur kurz aus bodenlosem Dämmer auf, aus seiner nicht zu Ende geträumten Jugend, oder aus Christos schlechter Vorahnung, dass ihm nach dem Verkauf der SOUND & SOFTWARE COMPACT GmbH irgendetwas Schlimmes passieren würde, die Vergeltung für solche Sünde. Denn â so erinnerte er sich an Dessislavas Worte â »mit der einen Hand gibt Gott, mit der anderen nimmt er«, woraus zu folgern war, dass, wenn man unverdient etwas bekommen hatte, man auch eine unverdiente Strafe erhalten werde.
Kotzev schaute ihn prüfend an. Tadelnd. Mit schwach gewordenen, aber durchdringenden Augen, in denen zu lesen stand, dass er voll bei Verstand war.
»Willkommen zurück.«
»Willkommensdank!«
»Du hast getrunken.«
»Hab ich, ja.«
»Und zwar viel getrunken.«
Christo beugte sich herab und nestelte aus dem Plastikbeutel die Flasche mit dem Obstbrand aus der Williams-Christ-Birne und drückte sie seinem GroÃvater in die Hand. Der lächelte:
»Oh, du hast es nicht vergessen.«
»Ich vergesse dich doch nie.«
Der Beschenkte vertiefte sich ins Etikett, streichelte erst mit Blicken, dann mit dem Daumen darüber und sagte:
»Der gehört zu meinen absoluten Lieblingsbränden«, sagte er, und dann, beiläufig, als teile er ihm mit, das Brot sei alle: »Deiner Mutter geht es schlecht.«
Diese Nachricht fuhr Christo direkt in die Magengrube. Seine Mutter war immerhin die Tochter des Alten. Er stieà Kotzev weg und lief zum Schlafzimmer seiner Eltern, das jetzt ganz einfach »ihr Zimmer« war. Er öffnete die Tür, das Licht blendete ihn. Die ganze Sonnigkeit dieses Tages lachte ihm in kalter Gleichgültigkeit ins Auge; sie gehörte nun anderen, glücklicheren Menschen. Tränen wuschen
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