Seelenasche
Bruder?«
»Nein.«
»Also nur ich. Schlimm!«
Gott, wie sie sich als tragische Heldin in Szene setzte, es war wirklich unerträglich! Dass sie sich so in den Mittelpunkt stellte, war ja noch verzeihlich, aber alles war so vorhersehbar! Es fehlte jenes Ãberraschungsmoment, das einem Drama erst Energie und Spannung verlieh und seine Fortsetzung notwendig machte. Fehlte es, kam unweigerlich jener unfreiwillig komische Moment, in dem auf der Bühne hehre Schicksale einander bedeutungsschwängerten, unten im Zuschauerraum aber die Leute verstohlen auf die Uhr schauten und sich fragten, ob sie eigentlich zu Hause die Herdplatte ausgeschaltet oder das Fenster zum Hof geschlossen hatten.
»Genau, nur du, weil du meine Mutter bist.«
»Ja, ich bin deine Mutter, aber â¦Â«
»Aber aufgezogen hat mich Oma, nicht?« Dessislava spürte, dass sie zu weit gegangen war, und kratzte sich das nackte Bein. »Aber gut, um dir eine Freude zu machen, zieh ich den linken Strumpf an, auch wenn der rechte mir dafür böse sein wird.«
Die Wolke zog vorüber, und das Sonnenlicht schlug kalt gegen das Fenster, getrübt und wie erschöpft von der Mühe, sich seinen Weg durch die Smogschicht über Sofia zu bahnen. Emilia nutzte den Beleuchtungswechsel, um ihr Drama fortzusetzen.
»Wie bist du nur wieder darauf gekommen? Und wann hast du das beschlossen?«
»Hab von Oma geträumt. Sie ist einfach in meinen Traum gekommen, hat mich umarmt und mir gesagt, ich soll endlich wieder zu mir finden.«
»Zu dir finden? Du meine Güte!«
Dessislava schaute eingeschüchtert in die Ecke.
»Sie meinte damit ⦠Oma wollte, dass ich an meine Anfänge zurückkehre.«
Von oben war starkes Rauschen in der Wasserleitung zu hören. Jemand duschte oder badete wohl.
»Ich versteh dich einfach nicht â¦Â«
»Meinst du denn, ich würd mich verstehen?« Verstimmt riss sich Dessislava den Strumpf vom Bein, aber den rechten. Ihre Mutter reagierte diesmal nicht darauf. Sie schien also wirklich traurig zu sein. Vor lauter Unbehagen begann sie zu stottern und sich krampfhaft an der Zigarette festzuhalten.
»Wenn du ihn gar nicht geliebt hast, warum hast du ihn dann geheiratet?«
»Und du? Hast du meinen Vater geliebt, als du ihn geheiratet hast?«
Emilia zurckte zusammen und schaute ihre Tochter so entsetzt an, als hätte die sie aus heiterem Himmel geohrfeigt.
»Ich fühlte mich sehr angezogen von seiner Festigkeit, seiner ⦠seiner geballten Energie. Und dabei war er so einsam, verloren und unglücklich; er hatte gerade seine erste Frau verloren. Ich ⦠ich ⦠wie soll ich sagen ⦠ich spürte, dass ich sehr an ihm hängen würde.«
»Das hab ich bei Sim auch gedacht. Ich hab mich auch meiner blöden Nachgiebigkeit überlassen und war mir sicher, es würde reichen, Mitleid mit jemandem zu haben, ihm treu zu sein und ⦠gebraucht zu werden!«
»Nur dass ich es geschafft habe, weil ich alles getan habe, was in meinen Kräften stand, und weil dein Vater und ich â¦Â«
»Weil mein Vater und du euch auch scheiden lassen wolltet.«
»Sei nicht grausam, Dess, und hör auf, mit diesem verfluchten Strumpf rumzuspielen. Zieh ihn an, oder lass ihn in Frieden!«
Ihnen gingen die Worte aus. Was sollten sie auch sagen bei so viel Unklarheit? Der Tee, den Dessislava aus selbst gesammelten und getrockneten Bergkräutern gekocht hatte, vor allem Thymian, Minze und wildem Majoran, wurde kalt in seiner Kanne; dabei hätte er sie befreiter atmen lassen und ihnen die unnötigen Gedanken genommen. So aber war alles derart vertrackt und ausweglos, dass Dessislava nur noch schlafen wollte.
»Simeon ist ein wunderbarer Schauspieler«, sagte ihre Mutter schlieÃlich nachdenklich, »ein toller Schauspieler, der dich auch noch liebt und verwöhnt.«
»Auf der Bühne ist er wirklich unglaublich«, stimmte Dessislava zu, »aber das macht mir ja gerade am meisten zu schaffen.«
»Und was machst du, wenn du allein bist? Du mit deiner Wehrlosigkeit und Empfindsamkeit â¦Â« Das Gesicht ihrer Mutter hatte sich entspannt. Sie spielte nicht mehr »die« Emilia Weltscheva, sondern war einfach nur noch eine in die Ecke gedrängte Frau von über siebzig Jahren. »Die Welt wird immer brutaler, habgieriger, materieller, das Leben immer unsicherer und unschöner, und du â¦
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