Seelenasche
ihm langsam den Blick frei. Seine Mutter versank im Weià der Laken, bis zum Kinn zugedeckt, und so eingesunken, dass es aussah, als atme sie gar nicht. Der Tod, dachte er, hatte sie noch nicht mitgenommen, aber ihr schon einmal seinen Trost in Aussicht gestellt. Auf Ljubas Lippen erschien ein ängstliches Lächeln, ein kleiner Vogel, der prüfte, ob der Zweig ihn trug. Ihre Hände lagen auf ihrer Brust; die blauen Venen traten hervor wie Wasserläufe, die ins Weià der Bettdecke flossen. Das weià gewordene Haar umstand ihren Kopf wie ein Heiligenschein. Sie rang nach Luft, stöhnte auf, und dann sah sie ihn. Ihre Augen füllten sich mit Freude und Zärtlichkeit, jener aufkeimenden Lebendigkeit, mit der uns nur die vollkommene Liebe erfüllen kann.
»Christo«, sagte sie schlicht und öffnete ihre Arme zum Zeichen, dass das Warten ein Ende hatte. Er beugte sich über sie und lieà sich bergen. Nein, jetzt konnte ihm nichts Schlimmes mehr passieren.
»Ich hab getrunken â¦Â«
»Du riechst nach müdem Mann«, lachte sie.
»⦠und zwar ordentlich.«
»Nach heimkehrendem Mann.«
»Du hast mir doch versprochen â¦Â«
Aber seine Mutter konnte nicht aufhören, vor Wiedersehensfreude zu lachen.
»⦠versprochen, ins Krankenhaus zu gehen! Ich hab dir gesagt, das Geld haben wir jetzt! Hörst du? Geld ist da!«
»Ach, Geld. Lass doch dieses dumme, lächerliche Geld!«
Wie sie ihn so an sich drückte, konnte ihm nichts Schlimmes mehr passieren ⦠aber ihr? Der Gedanke, dass er über fast fünfzig Millionen Deutsche Mark verfügte, Geld, das in beklemmender Weise niemandem anderen gehörte, er aber seine Mutter verlieren konnte, machte ihn wahnsinnig. Diese Unsumme Geldes war wie eine gewaltige Verspottung seiner Hilflosigkeit. War das der Preis dieses unverdienten Reichtums: das Leben seiner Mutter? Er wollte sie festhalten, sich in ihrer Umarmung festklammern, in ihrem Lachen, ihrer Wärme, sie festhalten.
»Ich hab getrunken«, stöhnte er.
»Weià ich doch«, erwiderte sie, »und zwar ordentlich!«
15
»Und zieh dir bitte endlich diesen Schlabberstrumpf an!«
Vor Empörung hatte ihre Mutter dramatisch die Arme ausgebreitet und die Finger gespreizt, eine Schauspielerin ohne Bühne, die sich über die mangelnde Verehrung, die mangelnde Wertschätzung des familiären Restpublikums ärgerte, vielleicht auch über Dessislavas insgesamten ScheiÃegalismus dem Leben gegenüber. Pensionierte Schauspieler spielen pausenlos sich selbst, dachte Dessislava betrübt, nur dass sie sich vor lauter Unsicherheit leider übertreiben! Das schien auch bei ihrer Mutter schon zur Gewohnheit zu werden. Von nun an sehen wir in der Rolle der Emilia Weltscheva: Emilia Weltscheva! Ein Albtraum!
»Mein Strumpf ist nicht schlabbrig, den habe ich selbst gestrickt! Der ist warm, flauschig und kuschelig, und aus echter, reiner Wolle. Ein echter Kamerad ist das.«
»Na, umso besser! Dann zieh ihn auch an, wenn er dein Kamerad ist.« Ihre Mutter sah gleich jünger aus, wenn sie sich so künstlich aufregte. Der heftige Ausdruck ihrer Missbilligung spannte ihre Gesichtshaut, die Sommersprossen überstrahlten die Fältchen um Mund und Augen, ihr weizenblond gefärbtes Haar fiel ihr über die Schultern.
»Das Dumme ist nur«, erwiderte Dessislava vollkommen ernst, »dass er und der rechte Strumpf sich nicht vertragen. Der rechte Strumpf ist aber auch mein Kamerad. Total treu ergeben ist der, eben wie der linke, und zu allem bereit.«
»O Gott, wann wirst du mal erwachsen?«
»Du wolltest doch, dass ich klein und niedlich bleibe«, schnitt ihr Dessislava rachsüchtig das Wort ab. »Klein, rein und weià wie ein KohlweiÃling, mit weiÃem Schleifchen, weiÃem Kleidchen und weiÃen Flügelchen. Ich erwache nachts manchmal mit dem Gefühl, ich hätte immer noch dieses Schleifchen im Haar und würde es im Kissen zerdrücken.«
»Hör auf damit!« Emilia steckte sich demonstrativ eine Zigarette an, und um zu zeigen, wie sehr Dessislava ihr den letzten Nerv raubte, sog sie daran wie eine Erstickende. Mochte ihre Rente kaum für das Allernötigste reichen, auf zwei Dinge wollte sie nicht verzichten: auf ihr Lancôme-Parfüm und auf ihre Menthol-Zigaretten. »Weià dein Vater eigentlich davon?«
»Nein.«
»Und dein
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