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Seelenasche

Titel: Seelenasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Zarev
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Schande machte. Sie hatte in der Aufregung den Schirm vergessen. Als sie auf der Moskowska-Straße hinter dem Schloss ankam, war sie vollkommen durchnässt. Das quittenfarbene Haus schien von innen heraus zu leuchten. Das Messingschild mit der Aufschrift Lucky Strike & Co. war verschwunden, auch der Wachmann am Eingang fehlte. Die massive Eingangstür war verriegelt, und das an einem Dienstagmorgen zur besten Arbeitszeit. Auf dem gegenüberliegenden Gehsteig saß eine alte Frau mit einem Sack vor sich, aus dem heraus sie ungesalzene Brezelringe verkaufte. Emilia kaufte sich einen. Er war noch ganz warm. Die zu groß gewordenen Zahnprothesen der Frau rutschten ihr im Mund umher, wodurch sie nuschelte und kaum zu verstehen war:
    Â»Viele Leute kommen her und wundern sich, wo die geblieben sind! Wundern sich, schimpfen, donnern gegen die Tür, aber seit einer Woche ist da niemand mehr.«
2
    Jemand klopfte draußen in der weißen Winterlandschaft seinen Teppich aus, und dieser zugleich dumpfe und knallende Laut bohrte sich in ihr Bewusstein, während der leise rieselnde Schnee versuchte, all dies herabzudämpfen auf eine besinnliche Stille. Die Flocken verschleierten den Blick, löschten Fuß- und andere Erinnerungsspuren aus, bedeckten Zeichen mit Wunder und Kälte, während sich in den Wohnungen der Menschen der Muff trocknender Mäntel und Jacken verbreitete, bei ihr auch der herbe Geruch des Alters. Das Nachmittagslicht sah krank aus, wie es sich bleifarben seinen Weg durch den Schneewirbel bahnte. An den Fenstern blieb der Schnee pappend kleben, dann rutschte er an den Scheiben herab.
    Emilia saß wie versteinert da. Sie musste jetzt die simpelste Rolle ihres Lebens spielen: sich selbst, aber gerade das machte ihr die Entscheidung so schwer, wie sie sie anlegen sollte: als Pechvogel, der seine eigene bescheidene Sicherheit im Namen der familiären Wohlfahrt aufs Spiel gesetzt hatte? Als Naive, die nichts Böses vermutete, und nun brutal abgezockt worden war von Leuten, die auf der grausamen Welle des Zynismus der neuen Zeit surften? Oder sollte sie es mit der reuigen Sünderin versuchen: Hier stehe ich, ich konnte nicht anders, die Zinsen waren einfach zu verlockend? Oder sollte sie den Lemming geben: Als die Mauer fiel, haben sich die anderen doch auch zu Tausenden in den Abgrund gestürzt, warum hätte ich es nicht tun sollen? Sie hatten schließlich alle in der atemberaubenden Umklammerung des Sozialismus gelebt, seiner farblosen Sicherheit, die an ein ärmliches Haus mit absurd dicken Mauern erinnerte, in dessen Fenstern Strohblumen standen. Nun waren die armen, kleinen Leute aus diesem Haus auf einmal frei und konnten auf eigene Verantwortung tun und lassen, was sie wollten, und wurden geradezu überrollt von zwei Eigenschaften, die sie in so unheilvoller Stärke nicht bei sich vermutet hatten: einer plötzlichen Gier, die dem unstillbaren Heißhunger von Zuckerkranken glich, und einer schrecklichen Unerfahrenheit in geschäftlichen Dingen. Fiebernd in der plötzlich frei flottierenden Energie der Umbruchjahre, hatten sich Gier und Unerfahrenheit zu einer chemischen Verbindung zusammengetan, die unweigerlich in den wirtschaftlichen Ruin und persönliches Unglück führen musste. Emilia seufzte. Sie saß gleich neben dem Telefon und brauchte nur den Hörer abzuheben, der angenehm, fast tröstend kühl war, und zu wählen.
    Â»Ja, bitte?«
    Margarita Lilova war auch nicht jünger als sie, aber niemand hatte es gewagt, sie kaltschnäuzig in Pension zu schicken. Ihre Stimme, die auf der Bühne von den Kehl- bis zu den Labiallauten traumwandlerisch sicher war, klang nun unsicher und hilflos.
    Â»Hallo, meine Liebe«, sagte sie, als hätte sie in ein faules Ei gebissen. »Entschuldige, ich bin’s schon wieder.«
    Â»Aber ich bitte dich, Emilia …«
    Â»Ich würde gern mal Theo sprechen.« Dann blies sie entschlossen und geräuschvoll den Rauch ihrer Zigarette aus und korrigierte sich: »Genauer gesagt, ich muss dringend mit ihm sprechen!«
    Â»Ich verstehe, nur dass jetzt … also …«
    Â»Ich weiß, ich rufe zum fünften Mal an und geh dir sicher auf den Wecker, aber …«
    Â»Er ist nicht zu Hause.«
    Maragarita Lilova war eine großartige Schauspielerin, aber auch sie hatte sich nicht völlig in der Gewalt. Man spürte förmlich, wie schwer es ihr fiel zu lügen.

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