Seelenasche
so etwas wie einen Pavillon, der einmal als Imbissstube für allerlei Böreks, Krapfen und Teigtaschen gedient haben musste. Jetzt war hier alles zerschlagen, abmontiert, geklaut â von den Bedienungstheken und Auslagen über Steckdosen und Lichtschalter bis hin zum herausgerissenen Waschbecken. An den Wänden eilig hingekritzelte obszöne Zeichnungen. Es roch streng nach Urin. Toschevs starke Jungs hatten es sich drinnen trotzdem auf zwei Klappstühlen an einem Serviertischchen gemütlich gemacht, auf dem eine Thermoskanne mit Kaffee und frische Croissants standen, so als seien sie nach durchwachter Nacht eigens zum Frühstück hergekommen. Die Fenster des Pavillons gingen genau auf den Parkplatz, und hinter diesem war der verschlafene, menschenleere Grenzbahnhof zu erkennen, dessen Uhr seit Jahren fünf vor halb sieben anzeigte. In der Ferne, von Unkraut überwuchert, das Abstellgleis, auf dem zehn Güterwaggons wie Ausstellungsstücke aus dem Eisenbahnmuseum vor sich hin rosteten.
»Möchten Sie einen Kaffee?«, fragte Toschev leise.
»Aber gern«, antwortete Christo. »Und was machen wir jetzt hier?«
»Warten.«
»Lange?«
»So lange wie nötig, Herr Weltschev, aber seien Sie ganz ruhig, haben Sie einfach Geduld.«
Hinter ihrem Rücken begann ein Walkie-Talkie zu piepen. Einer der Bodyguards brachte ihnen zwei klobige Gegenstände in Tarnfarbe, die sich als militärische Nachtsichtgeräte entpuppten.
»Soll ich fortfahren?«, flüsterte Toschev mit einer Stimme, die nach innerem Schmerz und äuÃerer Abfindung klang.
»Aber natürlich, Herr Toschev«, ermunterte ihn Christo, obwohl er alles andere als Lust hatte, ausgerechnet diese Geschichte zu hören, weil er sie in erschreckender Gleichartigkeit selbst erlebt hatte. Er kannte das Ende solcher Geschichten. Es war schmerzhaft und tragisch.
»Wo war ich stehengeblieben?« In der Dunkelheit schimmerte der kahlgeschorene Kopf seines Gesprächspartners bedrohlich.
»Sie sagten: âºBis zur zehnten Klasse â¦â¹Â«
»Ah ja. Bis zur zehnten Klasse war Mariana bloà ein anziehendes Mädchen, aber auf einmal blühte sie auf und wurde zur schönsten Frau nicht nur des Gymnasiums, sondern ⦠von ganz Sofia, ach, was sage ich, der ganzen schrecklich-schönen Welt. Ich vergötterte sie, umschwärmte sie. Aber sie sagte mir nur: âºDas Schönste an dir sind deine Haare.â¹ Zum Geburtstag schenkte sie mir eine Schachtel Nusspralinen, âºHaselnussdrillingeâ¹ hieÃen die Dinger damals. Die Schachtel hab ich heute noch. Ich hab nur beim Wehrdienst zwei davon gegessen, während des Studiums nochmal drei, und jetzt eins, bevor ich mich bei Ihnen meldete. Haben Sie so etwas schon einmal erlebt?«
»Oh, mehr als Sie vermuten.«
»Ts-ts: âºDas Schönste an dir sind deine Haare⹠⦠Und ich mochte sie nicht einfach nur gut leiden, zitterte nicht nur bei ihrem Anblick und war wie gelähmt in ihrer Gegenwart, ich hatte sogar schon begonnen, sie zu hassen. Ich hasste sie mit aller Kraft meiner schüchternen Jugend, mit all meiner verheerenden Hingabefähigkeit, mit all meiner Unfähigkeit, sie auch nur einen Moment lang zu vergessen. Ich weià es noch wie heute: Wir hatten Sport â âºLeibeserziehungâ¹ hieà das damals â, da ging die Tür zur Mädchenumkleide im Durchzug einen Spalt auf, und ich sah sie ⦠Sie war nackt und hatte den Kopf leicht zur Seite geneigt. Sie war vollkommen. Haben Sie so etwas schon einmal erlebt?«
»Sie haben ja keine Ahnung â¦Â«
»Ich hatte das Gefühl zu verschwinden, mich in der Luft aufzulösen und in ihr zu versinken. Ich spürte ihre Haut als Licht, als Aura. Kennen Sie das?«
»O ja.«
»Ich dachte, ich stürbe. Ich ging auf die Toilette und onanierte, aber nicht vor lauter Erregung, sondern um sie dadurch zu bestrafen, dass ich bloà geil auf sie war wie auf eine Hure, ein billiges Flittchen. Ich musste sie einfach erniedrigen, sonst hätte ich durchgedreht!«
»Quälen Sie sich nicht«, sagte Christo besänftigend, und es war nicht klar, wen er mehr besänftigen musste.
Als Toschev das Nachtsichtgerät an die Augen hob, zitterten seine Hände. Sorgsam suchte er den Parkplatz und den Bahnsteig dahinter ab; vielleicht nur als Vorwand, um sich wieder in den Griff zu bekommen. Die Grillen
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