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Seelenasche

Titel: Seelenasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Zarev
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unten war verklungen, nun war in der stickigen Stille das Rauschen der Toilettenspülung zu hören. Dessislava verließ auf einmal die Kraft. Taumelnd stand sie auf. Sie nahm ihre Handtasche vom Schreibtisch und schubste das Foto von Pepa Koitscheva unauffällig unter die anderen. Dann schaffte sie es, irgendwie zur Tür zu kommen. Dort wandte sie sich noch einmal um und sagte:
    Â»Bitte verzeih mir, wenn du kannst.«
    Â»Dess«, hielt Simeon sie zurück. Die Farbe war in sein Gesicht zurückgekehrt, es hatte wieder seine markante Männlichkeit. Die Selbstbeherrschung des großen Schauspielers sprach daraus, berufen, schwere Rollen im tragischen Fach zu spielen. »Ich wollte dir nur noch sagen, dass du bei deinem Hamlet auf mich zählen kannst. Wenn es sein muss, steh ich schon morgen zur ersten Probe auf der Matte!«
10
    Und wirklich: Um punkt zehn Uhr betrat er gewaschen und gekämmt, rasiert und parfümiert, kurz, mit allen Zeichen der Bereitschaft und des guten Willens, das Museum der revolutionären Bewegung, berstend vor Energie, und verströmte Glück, Glück in all seiner Unbeständigkeit. Seine Lippen umspielte jenes schiefe, angedeutete Lächeln, das seine Verehrerinnen verrückt machte und sie nachts feucht von ihm träumen ließ. Da war er, der versonnene Hamlet mit dem jungenhaften Charme, der so selbstvergessen war, dass er auch die anderen vergaß, driftend im trüben, kalten Licht des Nordens mit seinem unlösbaren Konflikt, »to be or not to be«, handelnd in das Leben einzugreifen oder sich treiben zu lassen, die Wahrheit beim Namen zu nennen oder sich verrückt zu stellen, Vergeltung zu üben oder selbst zu sterben … Simeon erinnerte sich gut an die Rolle mit ihren drastischen Regieeinfällen, der kompromisslosen Übertragung der Dramenhandlung ins Heute, durch das die Zeitlosigkeit des Stücks hervortrat, das, was sich ewig wiederholt, solange Menschen Menschen sind.
    Neben ihm wirkte Maja wie eine Frau, die arge Mühe mit ihrem ständigen Kater hatte, so als wäre Ophelia Alkoholikerin oder habe schon von Jugend an das Gebaren einer alten Jungfer entwickelt. Neben der lastenden Melancholie Hamlets kam ihre zerstreute Zimperlichkeit aber prima rüber. Sie wollte Hamlet gar nicht verstehen, und ihm auch nicht helfen, sie hatte einfach den Voyeurismus ihres Vaters, des alten Polonius, geerbt und war schlicht neugierig, was sich in dem Prinzen eigentlich abspielte. »Hamlet, als Zeitgenosse verstanden, hat kein festes Ethos, keine Abstammungssicherheit mehr«, sagte Dessislava, »darum braucht er Liebe; Ophelia bietet ihm aber nur ihre Neugier an.«
    Als sie eines Mittags eine Kaffeepause einlegten, stapfte Simeon mit seinem aus Zeitungspapier gefalteten Malerhütchen durch das improvisierte Etwas, das sie zur Bühne gemacht hatten, stieg über die offenen Farbeimer mit den Rollen und Pinseln und sagte schließlich:
    Â»Dess, dein abartiges Museum ist wirklich der Bringer, echt, einfach toll, aber … wenigstens der Saal hier, der hat einfach zu viel Hall.«
    Dessislava hatte den ganzen Vormittag über eine unerklärliche Gereiztheit empfunden, so als sei eine Fliege pausenlos und mit Gebrumm gegen ein Fenster geflogen, wusste aber nicht, woher sie kam. Nun auf einmal begriff sie, dass ihr titanischer Kampf um die Herrichtung des Saals, unterstützt von Maja und einigen Studenten der Schauspielakademie, die später Nebenrollen und die Höflinge am dänischen Königshof spielen sollten, vergeblich gewesen war. Die mit weißer Latexfarbe gestrichenen Wände glänzten – nackt und bloß, rein und … eben hallend.
    Â»Oje«, stöhnte sie, »und was haben wir hier schon an Geld reingesteckt.«
    Â»Am billigsten wäre es«, sagte Maja mit dem Plastikbecher Kaffee in der Hand, »wenn wir die Wände mit Mull oder Verbandsstoff tapezieren und sie dann nochmal streichen würden.«
    Â»Gut wären auch Damenbinden«, lachte Simeon forciert.
    Â»Aber … das heißt ja: alles noch mal von vorn! Zeit, Geld, woher nehmen und nicht stehlen?«, fasste Dessislava sich an den Kopf.
    Â»Oh, für mich gibt es nichts Schöneres, als ehemals revolutionär bewegte Wände mit Verbandsstoff zu kurieren. Da raste ich geradezu aus vor Begeisterung. Und das Geld, das hat doch der liebe Vetter, dein Christo . Ein paar tausend Dollar, das ist für den

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