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Seelenasche

Titel: Seelenasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Zarev
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Weg. Die glatten gelblichen Pflastersteine im Zentrum spiegelten den hereinbrechenden Abend, der von zwei bunten Strahlern erleuchtete Eingang zur Bonbonniere sah festlich aus. Festlich wie der Erfolg, dachte sie. Bis um halb sieben musste sie nicht ein einziges weiteres Mal weinen; für so einen Unsinn war jetzt keine Zeit mehr, auch wenn sie eigentlich nichts zu tun hatte. Christos Leibwächter brachten zwei Kisten Sekt, Platten mit Häppchen, Servietten und Plastikbecher und ordneten sie auf einem improvisierten Buffettisch an.
    Um zwanzig vor sieben begannen die ersten Besucher zu kommen, und da fiel Dessislava auf, dass Simeon schon längst hätte da sein müssen. Um zehn vor sieben war der Saal beinahe gefüllt; ihre Mutter und ihr Vater saßen neben dem Kulturminister, der im Ministerium all seinen ehemaligen Sekretärinnen ein Pöstchen verschafft hatte, an die Damen feuchte Handküsse verteilte und bereit war, jedes »wirklich künstlerische Projekt« zu unterstützen, vorausgesetzt, man wollte kein Geld von ihm. Langsam begann Dessislava, sich über Simeons Schlendrian zu ärgern. Gut, er musste sich für das Stück nicht umziehen, sondern konnte direkt in seinen verwaschenen Jeans und seinem ausgeleierten Pullover spielen, aber ein bisschen Gesichtspuder und dezente Schminke waren schon wegen der Beleuchtung unausweichlich. Der Abstand zwischen den ersten Reihen und der Bühne war minimal, ein schwitzender Schauspieler wirkt aber ebenso abstoßend wie ein schwitzender Gigolo. Um sieben vor sieben kamen mitsamt ihrer Eitelkeit und überkandidelten Lebensfreude die Kollegen von der Satire , der Komödie und dem Armeetheater, darunter auch Pepa Koitscheva, in schlichtem Kleid, aber der Mähne und dem Gebaren einer Schlagersängerin. Sie lächelte Dessislava zu und machte das bekannte Zeichen mit den Daumen.
    Um fünf vor sieben betrat Christo die Bonbonniere in Gesellschaft Eduard Toschevs und einiger weiterer namhafter Geschäftsleute und Bankiers. Sie alle kamen in Begleitung ihrer Frauen, eingehüllt in teure Düfte und die Garderoben italienischer und französischer Designer und behängt mit echten Diamanten. Um zwei Minuten vor sieben bekam sie Atemnot, um Punkt sieben rauschten ihr Bruder Jordan und ein junges, rothaariges Wesen herein, das entfernt, aber erschütternd ihrer verunglückten Schwägerin Neda glich. Um fünf nach sieben ging sie in die Garderoben zu den Schauspielern. Maja empfing sie:
    Â»Wo ist dieser Schluck Spucke abgeblieben?«
    Sie hatte sich vor Spannung auf die Lippen gebissen und auf jenes ausziehbare Sofa fallen lassen, das später beim Stück im Stück das Ehebett des Königspaares abzugeben hatte, in dem die Schauspieler demonstrieren sollten, wie hinterhältig Hamlets Vater vergiftet worden war, der alte und ehrwürdige König von Dänemark.
    Â»Wo treibt sich dieser läufige Köter ausgerechnet jetzt herum?«
    Â»Das frage ich mich auch«, sagte Dessislava und setzte sich neben die wartende Ophelia.
    Um viertel nach sieben, als die Stimmen im Zuschauerraum immer lauter wurden, fiel es Dessislava wie Schuppen von den Augen: Auf einmal begriff sie, warum Simeon sich so bereitwillig angeboten hatte, warum er sich so in die Proben hineingekniet und warum er sogar bei der Renovierung alles getan hatte, damit sie rechtzeitig fertig wurden. Seine ganze Sommerpause hatte er darangegeben, um ihr zuerst die Gewissensbisse über die ausgesprochene Trennung zu nehmen, sie dann von ihren Zweifeln zu befreien und sie sich in jene Begeisterung, jenen Glücksrausch hineinsteigern zu lassen, nach dem das Unglück umso furchtbarer sein würde! Das, was er da perfekt inszeniert hatte, während sie glaubte, mit ihm den Hamlet zu inszenieren, war ihre eigene Niederlage, das entstehende Schöne, gekrönt von Hässlichkeit und Scheitern. Die Klarheit dieser plötzlichen Erleuchtung war so tödlich wie bei einem bösen Zauber. Sie merkte gar nicht, dass sie zu weinen begonnen hatte. Sie war zu beschäftigt mit ihren Gedanken, und da war auch keiner, der es ihr gesagt hätte.
    Um zwanzig nach sieben kam Christo in die Garderobe, schaute sich nach Simeon um, begriff die Lage sofort und erstarrte.
    Â»Geh du raus vor die Leute«, tippte er Maja an, um sie in die Wirklichkeit zurückzuholen, »und erklär ihnen, dass die Vorstellung wegen einer plötzlichen Erkrankung

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