Seelenasche
doch Taschengeld.«
Dessislava hatte »ihr Theater« geträumt. Die Bühne sollte auf einem Podium nicht mehr als fünfzig Zentimeter über dem Saalboden sein, das durch einen billigen Leinenvorhang vom Zuschauerraum getrennt war. In diesem Zuschauerraum würden sie gewöhnliche Parkbänke aufstellen, aber weiÃ, rosa und lila gestrichen. Dieses farbliche Zusammenspiel würde eine Atmosphäre von Puppenhaftigkeit und kindlicher Zauberwelt erzeugen, die an naive Plapperhaftigkeit denken lieà und mit seiner Ungewöhnlichkeit ablenken würde; aber taten die Säulen, Galerien und Kartuschen, Geländer und Giebel im Volkstheater das nicht auch? Keine überflüssige Prachtentfaltung â nur diese drei Farben WeiÃ, Rosa und Lila, denn die waren nicht im Alltag und auf der StraÃe zu finden, sondern bei Tulpen, Gladiolen und Nelken â und in Träumen. Theater war ja ein Traum, wie auch das Leben laut Calderon ein Traum war, aber im Theater war dieser Traum in eine Form gebracht, eine überschaubare Form.
Sie gaben sich einen Ruck und â machten weiter. Morgens Proben, nachmittags setzten sie die Papierhüte auf, zogen alte Hosen, T-Shirts und Galoschen an und malerten, was die Theaterbegeisterung hergab, denn die Zeit drängte. Die Premiere sollte auf Vorschlag Simeons am 6. September sein, dem Tag der Einigung von Nordbulgarien und Ostrumelien 1885, und das bedeutete, dass sie mit der Schalltapezierung und dem Anstrich spätestens Ende Juli fertig sein mussten, damit die Farbe trocknen und der Gestank nach Latex aus den Räumen verschwinden konnte.
11
Die Zeit bis zur Premiere rollte fort wie eine Münze, die einem blinden Bettler entglitten war. Die Generalprobe setzten sie für den 4. September an. AuÃer den Beleuchtungstechnikern durfte dabei nur Christo Weltschev anwesend sein. Als er den Raum betrat, entfuhr ihm ein Laut des Staunens. Dann brachte er es auf den Punkt:
»GroÃartig, es ist, als ob man von der StraÃe direkt in eine wundersame Bonbonniere fällt.«
Damit war auch die Frage entschieden, wie das Theater heiÃen sollte! Dessislava hatte sich gewünscht, dass schon der Name ungewöhnlich sein und aufmerksam machen, dabei aber nicht zu prätentiös sein sollte. Bonbonniere war einfach der Hit! Die Generalprobe selbst lief reibungslos, temporeich und machte dem Namen des Theaters alle Ehre: Es wurden viele Ãberraschungen ausgepackt! Simeon übertraf sich selbst, Maja brillierte mit ihrer altjüngferlichen Betulichkeit, der Polonius vertat sich nicht ein einziges Mal im Text, und die Studenten von der Schauspielakademie wirkten nicht wie Schauspieler, die Höflinge und Hofdamen spielten, sondern wie bekiffte Halbstarke. Als der löchrige Leinenvorhang fiel, trat eine eisige Stille ein, in die das einsame Klatschen Christos fiel wie Schüsse. Schüsse, die direkt ins Herz gingen, direkt in ihre Seele. Christo war von der Vorstellung wirklich erschüttert, und er verbarg es nicht, sondern verneigte sich vor ihr. Er bestellte Taxis und lud die gesamte Truppe ins Panorama-Restaurant des Japanischen Hotels ein. Nach dem zweiten Wodka hielt Christo es nicht mehr aus und sagte:
»Dess, ich kenne deinen Hamlet ja noch von damals, als du ihn in der Akademie geprobt hast, aber jetzt ist was dazugekommen, was ihm noch einen Dreh mehr gibt. Einfach groÃartig!«
»Sie ist genial«, meldete sich Simeon zu Wort, »und du â freigebig! Diese Kombination zwischen dir und ihr gefällt mir, und ich kann nur hoffen, dass sie sich heilsam auf meine reichlich verwaiste Börse auswirkt.«
Am 5. September wollte der Regen gar nicht mehr aufhören, und Dessislava verschlief den ganzen Tag. Traumlos und tief. In der Nacht auf den 6. September dann bekam sie kein Auge zu und wanderte zwischen Bad, Wohnzimmer und ihrem Zimmer hin und her, lauschte auf das Schnarchen ihrer Mutter, legte sich wieder hin, zählte Schafe bis hundert, bis tausend, aber es half alles nichts. Am Morgen des 6. taumelte sie vor Müdigkeit und Ãbererregung. Sie fühlte sich wie in Einzelteile zerlegt, bekam ihre Bewegungen nicht koordiniert. Bis zum Mittag ging sie zweimal zur Frischbäckerei, kaufte insgesamt vier Brote und weinte dreimal. Einfach so, wegen nichts. Vor lauter Glück, sagte sie sich zur Beruhigung.
Um halb sechs fiel noch immer dieser Landregen, trotzdem machte sie sich zu Fuà auf den
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