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Seelenasche

Titel: Seelenasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Zarev
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Entscheidendem zu sein. Ich vermute, im Theater ist es ähnlich?«
    Â»Ich protestiere seit einem Monat dagegen, in diesem Baldachin-Kleid auftreten zu müssen, weil es die Leute trübsinnig macht und mich auf der Bühne erstickt. Und was ist? Heute finde ich denselben Fetzen schon wieder in meiner Ankleide. Ich bin fast durchgedreht …«
    Â»Und was bedrückt dich sonst?«
    Emilia schwieg vielsagend, schluckte ihr vornehm klein abgesäbeltes Stück Kotelett herunter. Natürlich hatte sie ihren Stiefsohn nicht deshalb so eilig um ein Treffen gebeten, um sich bei ihm über die Entscheidungen der Kostümbildner im Volkstheater auszuweinen.
    Â»Mir drückt was aufs Gemüt, Jordan!«
    Â»Die Theaterschneiderei hat sicher Mühe, allen Aufträgen auf einmal nachzukommen. Kann ich dir irgendwie helfen, Emilia?«
    Die Angesprochene klopfte mit lackierten Nägeln gegen den hohen Stiel ihres Weinglases. So erschöpft sie auch war von der Aufführung, sie sah dennoch erstaunlich jung und attraktiv aus. Ihr langes Haar hatte seinen Goldschimmer nicht verloren, die Fältchen um ihre Lippen, Augen und am Hals waren nur bei genauem Hinsehen zu erkennen, und ihre Sitzhaltung war selbstsicher und herausfordernd. Trotz alledem verströmte sie die Traurigkeit eines edlen Streichinstrumentes, das jemand achtlos in die Ecke gestellt hatte. Sie bestellte sich eine Crêpe mit Schokoladencreme, und wenn Emilia am Abend Heißhunger auf Süßes hatte, konnte das nur bedeuten, dass ihr etwas sehr auf die Seele drückte.
    Â»Kann ich dir irgendwie helfen, Mama ?« Dieses vergessen geglaubte Wort wühlte sie auf, als hätte er überraschend einen riesigen Blumenstrauß unter dem Tisch hervorgezaubert und ihr überreicht. Eigentlich rauchte sie ja nicht, aber jetzt griff sie nach seinen Zigaretten der Marke Astor, die mild und weich im Geschmack waren.
    Â»Du könntest mir höchstens im Wege stehen!«, lächelte sie. »Und die Sache ist eben die, dass ich genau das nicht möchte: gehindert werden.«
    Ihre Augen bekamen einen feuchten Schimmer, vermutlich gereizt von dem ungewohnten Zigarettenrauch.
    Â»Woran? Ich verstehe dich nicht, was du …«
    Â»Es ist so simpel, dass ich mich frage, wie ich es ein bisschen umständlicher sagen könnte, damit es schwieriger wirkt. Weißt du, so eine gewisse Weitschweifigkeit beruhigt, das kenne ich von manchen Stücken.« Sie nahm einen großen Schluck, wie um einen schnellen Schwips zu bekommen, und sagte dann: »Dein Vater und ich, wir lassen uns scheiden!«
    Â»Papa und du?«
    Bevor Jordan reagieren konnte, hatte sie schon seine Hand ergriffen, um ihn zu stoppen. Es sah aus, als wolle sie sich an seiner Rechten festhalten, um nicht vom Stuhl zu fallen.
    Â»Die Initiative ging von mir aus. Du weißt, dein Vater hat als Jurist ganz gute Beziehungen zum Gericht. Die erste Verhandlung war gestern. Wir wollen die Sache anständig und wie kultivierte Leute durchziehen, mit Takt und Fingerspitzengefühl, wenn du so willst. Das nennen sie ›in gegenseitigem Einvernehmen‹. Keiner wird schuldig gesprochen, jeder legt den größtmöglichen Respekt für den anderen an den Tag. Teilen werden wir nichts, nicht einmal euch. Wenn ihr tapfere und kluge Kinder seid, werdet ihr das auch nicht tun.« Sie sprach sachlich, monoton, so als erkläre sie ihm einen Weg.
    Â»Aber das ist doch ein Witz – Leute in eurem Alter!« Er hatte es kaum ausgesprochen, da merkte er, in was für ein Fettnäpfchen er getreten war. Es grenzte an Beleidigung. Mitgefühl hörte sich jedenfalls anders an, und das, was Emilia jetzt brauchte, um ihren inneren Überdruck loszuwerden, war eben sein Schmerz, seine Anteilnahme. Jede Familie, selbst eine so zusammengewürfelte wie die ihre, glich einem System aus kommunizierenden Röhren. Doch Jordan empfand einfach keine Trauer, nicht einmal Verstörung. Sie hätte ihm genauso gut sagen können: »Dein Onkel Krum Marijkin aus Widin ist gestorben!« Diesen Onkel hatte er in seinem ganzen Leben vielleicht fünfmal gesehen, wenn er dienstlich nach Sofia kam und bei ihnen kampierte, und immer kam er mit einer Korbflasche Landwein an und zog seine staubigen Schuhe in der Diele aus. Jordans Zugehörigkeitsgefühl zu den Weltschevs als Sippe war nie stark gewesen; im Laufe seiner Berufsjahre war es irgendwo in den langen

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