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Seelenasche

Titel: Seelenasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Zarev
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letztlich hier war. Er lächelte ihr warm und verbindlich zu, als seien sie uralte Freunde, sie nickte kalt zurück. Endlich machte sie im Menschengewühl auch ihren Anwalt aus. Christolkov huschte mit seiner schweren Lederaktentasche flink wie ein Flitzebogen auf sie zu.
    Â»Was ist hier los?«, fragte sie beunruhigt.
    Â»Der reinste Horror, Frau Weltscheva, oder der nächste Aberwitz, ganz wie Sie wollen: Bombendrohung.«
    Emilia verstand nicht.
    Â»Aber … wie kann das denn sein?«
    Â»Vor einer halben Stunde gab es einen anonymen Anruf im Gericht.« Christolkov machte eine Pause, um seinen Worten mehr Bedeutung zu verleihen, nestelte ein riesiges Stofftaschentuch aus seiner Hosentasche und schneuzte sich geräuschvoll hinein. »Dieser angeblich anonyme Anrufer nun warnte, im Gericht sei eine Bombe gelegt worden.«
    Â»Was meinen Sie mit ›angeblich anonym‹?«
    Â»Nun, ich habe da so eine Vermutung … Ich will hoffen, dass sie sich als unberechtigt erweist.«
    Â»Und was jetzt?« Emilias eigene Vorahnungen liefen ihr wie Ameisen über den Rücken.
    Â»Der Prozessbeginn wird vertagt, Frau Weltscheva. Da das Gericht überlastet ist, wird es wohl Herbst werden …«
    Und so kam es auch.
    Der für September neu angesetzte Termin fiel ausgerechnet auf Freitag, den 13. Der Tag war so heiß, dass es einem die Sinne benahm. Diesmal entschied sie sich vor dem Frisierspiegel für ihr Leinenkleid, das mit seinem an auskristallisierten Honig erinnernden Farbton dezente Eleganz verströmte. Auch diesmal wieder vollzog ihre Tochter das Wasserspritz-Ritual auf der Treppe, und diesmal achtete Emilia darauf, den Wunsch, es möge laufen wie Wasser, nicht als persönliche Aufforderung zu nehmen. Auf dem Gehsteig schlug ihr der heiße Hauch verbrannten Brots, glühender Gehwegplatten und ungelüfteten Lebens entgegen. Auf dem weich gewordenen Asphalt des Evlogi-Georgiev-Boulevards trieb das Licht seine Vexierspiele, die Autoschlange darauf war endlos. Die meisten Wagen waren aus Frankreich oder Deutschland importierte Gebrauchtwagen, die mindestens fünfzehn Jahre auf dem Buckel hatten, aber prestigeträchtige Markennamen trugen.
    Emilia ging auch diesmal zu Fuß. Ihre Seele füllte sich mit Feierlichkeit, ihr Herz mit bittersüßer Reue. Sie eilte. Sie hatte Zeit, aber nein, sie eilte, eilte ihrer Kasteiung entgegen. Kam eine halbe Stunde vor dem Termin beim Gericht an. Durchschritt ungehindert das Portal, betrat die Kühle der Justiz. Heute war alles in Ordnung. In den Steinplatten, mit denen der Boden bedeckt, die Wände des Foyers verkleidet waren, schien es leise zu flüstern von den inneren Stimmen der Menschen vor und nach Prozessen, in denen der eine sein Recht, der andere sein Unrecht bekommen hatte. Im Flur vor dem Gerichtssaal wäre sie fast mit Milanov zusammengeprallt. Er war in Begleitung seiner beiden Anwälte und verbeugte sich vor ihr mit solch demonstrativer Höflichkeit, dass es schon an Sarkasmus grenzte.
    Fünfzehn Minuten vor fünfzehn Uhr sauste, schnaufend wie eine Dampflokomotive, die die Rettung brachte, auch Christolkov herein.
    Â»Endlich, Frau Weltscheva«, sagte er mit einer Stimme, als sei nicht er, sondern sie die später Gekommene, »endlich ist es so weit, nicht? Was ich Ihnen …«
    Christolkov konnte seinen Satz nicht beenden. Sein Mund blieb offen stehen, denn das Geräusch der Alarmsirene durchschnitt das Menschengewimmel im Gang. Erst erstarrten alle, dann ging das Gerenne los. Auch aus den oberen Etagen ergossen sich die Menschenströme in Richtung Ausgang, und das Getrappel aller vereinigte sich zum Stampfen einer panisch flüchtenden Viehherde.
    Â»Bombenalarm«, rief der Polizist seinem Kollegen zu, der sich mitsamt seiner vom Gürtel herabbaumelnden Handschellen, seinem Pistolenhalfter, seinem offenen Uniformhemd und – unbeeinduckt vom Halbdunkel im Gerichtsfoyer – schwarzer Sonnenbrille auf der Nase seinen Weg zum Ausgang bahnte.
    Der nächste Gerichtstermin platzte ebenfalls, weil der anonyme Anrufer sich als äußerst pflichtbewusst erwies und auch diesmal darauf hinwies, dass im Gericht eine Bombe gelegt worden sei. Auch diesmal begegnete Emilia ihrem Opponenten Milanov. Das Gefühl, dass er seinen bösen Schabernack mit ihr trieb, war nun unabweislich.
    Danach kam der berühmt-berüchtigte Winter von 1996 auf 1997.

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