Seelenasche
Fremdes in sich anzuhäufen, bis der einzelne Wesenszug sich mitsamt der Schmerzen im kunterbunten Allerlei verlor. Er übersah aber, dass er sein Inneres so in einen anschwellenden, immer breiter werdenden Fluss verwandelte, der jede Verständnisbrücke zwischen den beiden Ufern mit sich fortriss. Seine Entzweiung (gelegentlich verwendete er auch das schärfere, das brutalere Wort »Gespaltenheit«) hatte sich in eine Existenzform verwandelt, eine fortdauernde Praxis, bei der die beiden Ufer seines Lebens nicht einfach nur ohne Berührung blieben, sondern einander sogar feindlich gegenüberstanden.
Schon im Alter von zehn Jahren hatte Christo die Zerrspiegel dauernder Verstellung und Heuchelei kennengelernt, die das Bild der Welt veränderten, es vergröÃerten oder verkleinerten, flacher oder tiefer machten. Lustiger, unterhaltsamer wurde sie dadurch nicht, sondern einfach nur deformiert bis zur Unkenntlichkeit. Das Kind in ihm hielt dieser permanenten Vergewaltigung nicht stand; es wurde im Handumdrehen erwachsen und hörte auf, sich selbst zu mögen. Christo war zugleich zerrissen und niedergewalzt von dem, was er jede Nacht mit dem Ohr an der Wand zum Elternschlafzimmer bruchstückhaft erlauschte, der Schlaflosigkeit, den Flüchen und Verwünschungen seines Vaters einerseits, und den Tränen, der unschuldigen Wehrlosigkeit seiner Mutter, die etwas unter Strafe Stehendes zu gestehen hatte, andererseits. Es waren immer nur einzelne, unzusammenhängende Worte, die er da hörte, aber sie bohrten sich in sein Bewusstsein wie ein Treibstachel. Am Morgen dann sah er seinen Vater rasiert und frischgemacht, mit weiÃem Hemd und reinlichem Lächeln, völlig verwandelt vor seinem allmächtigen GroÃvater stehen. Anbiedernd beschwingt, freundlich und redselig, nannte er seine nachts so schlimm erniedrigte Frau, Christos Mutter, »mein Liebes« und vergaà nie, fürsorglich zu fragen: »Soll ich dir Zucker in dein Kaffeechen tun, mein Liebes?« oder bat: »Würdest du mir bitte das Löffelchen reichen, mein Liebes?« Mit diesen übertriebenen Zeichen seiner Zuneigung wickelte er am Frühstückstisch alle ein, sogar seine Mutter, sogar ihn, Christo.
Nie hasste er seinen Vater stärker als in diesen Momenten. Aber er hasste ihn, weil er ihn eigentlich liebte, und es war nicht nur belastend, sondern geradezu schrecklich, mit diesem Widerspruch leben zu müssen. Von den Malen, wo er sich an ihn gekuschelt hatte, während sie im Stadion ein Spiel von ZSKA Sofia schauten, erinnerte er sich beseligt an den herben Geruch, die Körperwärme seines Vaters; aber das hinderte ihn nicht, ihm in der Wut ReiÃnägel auf Stuhl oder Sessel zu legen, damit wenigstens für eine Weile dieses verrückt machende Schönwetterlächeln von seinem Gesicht verschwand. Sein Vater aber, nur um es sich mit niemandem zu verderben , schimpfte nicht etwa oder äuÃerte gar den naheliegenden Verdacht, sondern rief nur aus: »Autsch! Wo kommen nur immer diese ReiÃnägel her?«
Und dann, ja, und dann diese fatale Liebe zu seiner Tante Emilia Weltscheva, anfangs rein und schwindelerregend wie die Luft im Hochgebirge, bei der man nach Sauerstoff schnappte, später eher der Höhenangst am Abgrund vergleichbar, und schlieÃlich einmündend in das leidvolle Begehren nach einer dreiÃig Jahre älteren Frau. Irgendwann hatte diese verhängnisvolle Leidenschaft plötzlich aufgehört, und ihm war, als sei er aus einem Fiebertraum erwacht. Doch die Liebe, die dieser fatalen Leidenschaft folgte, die Liebe zu Emilias Tochter Dessislava, war auch nicht besser. Wieder verwandelte sich sein Leben in ein einziges Lauern, ein einziges Verheimlichen seiner inzestuösen Sehnsüchte. Und doch, so wurde ihm manchmal durchaus bewusst, war die Liebe zu Dessislava für ihn heilsam, rettend gar, denn sonst hätte er der mörderischen ZerreiÃspannung in sich wohl nicht standzuhalten vermocht und wäre verrückt geworden.
In einem Land, in dem traditionelle Werte noch immer prägend waren, fiel ein »ewiger Junggeselle« wie er natürlich auf, und er erfand die unglaublichsten Ausreden dafür, dass er noch nicht einmal eine feste Freundin vorweisen konnte. Dessislava selbst gegenüber spielte er den guten Freund, der sich einfach gern um sie sorgte, weil er nichts Besseres zu tun hatte. Ihre Hochzeit mit diesem
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