Seelenasche
Alternative.«
Zu diesem Zeitpunkt kam kaum jemand auf den Gedanken, dass die Vermögensverhältnisse des Ex-Zaren vielleicht nicht ganz so glänzend waren und dass er zurückgekehrt sein könnte, um sich die Ländereien und Landgüter wiederzuholen, die seiner Dynastie vor über fünfzig Jahren angeblich enteignet worden waren. Das kleine Detail, dass diese Liegenschaften niemals Eigentum der Zarenfamilie gewesen waren, sondern Staatseigentum, das ihnen über eine Intendantur zur Nutzung freigegeben war, kam erst sehr viel später ans Licht.
4
Als der Berufungsprozess gegen Lucky Strike & Co. eines Donnerstagmittags im September doch noch stattfand, saÃen im viel zu groÃen Saal 4 des Justizpalastes nur die noch lebenden Schauspieler, die im Schlepptau Emilias ebenfalls um ihr Geld gebracht worden waren. Das quittenfarbene Licht des Spätsommers beschien ihre gealterten, faltigen und müden Gesichter, in deren Augen ein letzter Widerschein verflogenen Ruhms flackerte. Auch hatten sie ihr Gespür für Auftritte nicht verloren, was ihnen noch immer Anziehungskraft verlieh in diesem letzten Stück ihres Lebens, in dem sie zusammen mit Emilia Weltscheva, aber auch Milanov, »dem Bösen«, der als moderner Teufel auch diesmal vollendete Manieren und eine verletzende Höflichkeit an den Tag legte, und seinen beiden Advokaten spielten. Die Sonne schien durch die aus Buntglas zusammengesetzte Justitia, als wolle sie sie sehend machen, ihr die Binde von den Augen reiÃen und sie mit genug Energie aufladen, damit sie ihr Schwert gegen die Ungerechtigkeit im Saal unten schwingen konnte.
Vor Aufregung hielt Emilia die ganze Zeit ihre Daumen gedrückt. Anwalt Gogov neben ihr presste den Knopf seines Sakkos, obwohl gar kein Krankenwagen mit Blaulicht vorbeifuhr. Richter Momtschev erhob sich majestätisch und verlas mit gleichmäÃiger, fester Stimme das Urteil. Wie sie ihn so ansah in seiner sauerkirschroten Toga, konnte Emilia nicht anders als zu denken: So sieht also ein Henker aus! Und als sie nicht nur hörte, sondern auch verstand, dass die höhere juristische Instanz Sofias das vom Bezirksgericht gefällte Urteil zugunsten des Geschäftsführers von Lucky Strike & Co. bestätigte, erfasste sie zunächst eine bedenkliche Gleichgültigkeit, schlieÃlich eine gefährliche Erleichterung. Auf einmal blitzte die Erkenntnis in ihrem Kopf auf, welch unfehlbaren Blockademechanismus Milanov in all den letzten Jahren angewendet hatte: Er hatte zunächst mit simplen Tricks dafür gesorgt, dass die Verhandlungen vertagt wurden, um in der so gewonnenen Zeit herauszufinden, welche Richter und Staatsanwälte bestechlich und ⦠bezahlbar waren, und dann dafür zu sorgen, dass ihnen der Prozess übertragen wurde.
»Was hab ich nur getan, dass ich so gestraft werde?«, stöhnte einer der alten Schauspielerkollegen hinter ihrem Rücken.
Emilia hielt es nicht auf ihrer Bank. Sie stand auf, fuhr den Zeigefinger gegen die roten Roben aus und sagte: »Schämen Sie sich denn gar nicht? Haben Sie denn nicht das geringste schlechte Gewissen? Oder wenigstens Gottesfurcht?«
Sie musste an die Verse des bulgarischen Dichters Iwan Wasov denken, der über hundert Jahre zuvor Ãhnliches gefühlt haben musste, als er schrieb: »Oh, schläft denn Gott, oh, sieht er denn nicht hin?« Wie oft hatte sie diese Verse am 8. März, dem Weltfrauentag, rezitiert, und wie hallten die jetzt in ihrer Seele wider! Hinter sich hörte sie das Geräusch enttäuschter, niedergeschlagener Menschen, die sich ungläubig erhoben und zerschmettert den Saal verlieÃen. Nun war auch der letzte Schein der einstigen Lieblinge des Volkes erloschen; das war kein rauschender Abgang, das war ein Hinausschleichen. Aus dem Augenwinkel sah Emilia, wie einer der Schöffen sich in die Tasche griff. Ein Knacklaut. Dann kam ein Stück Alpenmilchschokolade zum Vorschein, das er genussvoll auf der Zunge zergehen lieÃ, bevor er dezent rülpste und sich den Mund mit einem Taschentuch abwischte.
Angewidert wandte sie den Blick ab. Die Sonne erweckte die bunten Glassplitter der Justitia zum Leben. Aber auch das machte die Göttin der Gerechtigkeit nicht sehend, und auch ihr Schwert blieb reglos. Da verwandelte das Gefühl der Erleichterung in Emilia sich in einen unerträglichen Schmerz, einen Schmerz, der alles überstrahlte, der sie alles vergessen
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