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Seelenasche

Titel: Seelenasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Zarev
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den Feierabend, die umliegenden Hügel verblassten. Die Festungsmauer glich einer aufgeblühten Tulpe, die Wachen machten sich daran, die Tore für die Nacht zu verschließen. Erst da bemerkten sie ihn. Er war einsam wie die Wahrheit und abgerissen wie sie. Er war weder besonders groß und stämmig noch besonders klein und schmächtig. In seinem Ohr blitzte ein Ohrring.
    Â» Bin wohl müde geworden«, sagte der Mann und stützte sich auf seinen Wanderstab.
    Die Wachen dachten, er sei verrückt oder aussätzig, und ließen vorsorglich ihre Schwerter klingen. Der Himmel war leer bis auf einen späten Falken.
    Â» Ich bin es müde geworden, zu überzeugen«, vollendete der Mensch seinen Satz.
    Die Angst der Torwächter steigerte sich zum Entsetzen. Dabei wollte er ja noch gar nichts. Sie schlossen aber die schmiedeeisern beschlagenen Torflügel nicht, die gleichsam die Scharade der gähnenden Ungewissheit bildeten, der ganzen noch unausgesprochenen Nacht und ihrer Mahre.
    Von dem Menschen gingen so viel Melancholie und so viel ruhige Selbstgewissheit aus, dass die Hunde sich ihm zu Füßen legten, als hätte er Anfang und Ende des Imperium Romanum mitsamt der vielen Tagereisen dazwischen gebündelt in diesen Punkt steiniger, sonnengeplagter jüdischer Erde. Er stand vor ihnen, körperlos wie ein Harfenton, seine großen Füße aber waren behaart. Die Männer wussten im Vorheinein, dass man ihn fortjagen würde, hörten schon die Ruhe, die dem knirschenden Laut beim Zuschlagen der schweren Pforten folgte, und weil sie es wussten, waren sie bereit, ihm zu verzeihen, ja, sogar ihn zu lieben. Sie lächelten in sich hinein mit jener Selbstzufriedenheit, die vom Wein oder von der friedlichen Abendstimmung herkam, oder aber vom Rausch der Gefahr, als der Mann sagte:
    Â» Ich bin gekommen, um den Obersten Patrizier dieser Stadt zu treffen. Ich habe ihm etwas Hoffnungspendendes vorzuschlagen!«
    Â» Wer bist du, Unglücklicher ?« , fragte der Wachhauptmann.
    Â» Erkennst du mich nicht, Törichter? Ich bin dein Gott!«
    Einer der Hunde vergrößerte mit seinem Gähnen die Toröffnung. Die Männer aber liefen durcheinander, beleuchteten den Unbekannten mit Fackeln. Er sah unscheinbar aus, seine Selbstsicherheit aber gab ihm eine Präsenz wie ein von fern herüberklingendes Lied, wie das Grollen herabstürzender Steinbrocken, wie … die ewige Angst.
    Etwas Hoffnungspendendes also? Der Mann sah nicht gerade aus wie einer, der das große Gesetz entdeckt hatte. Das Zirpen der Grillen perforierte die Stille. Ein Geruch nach Staub, nach Spätsommer legte sich über die Stadt. Die Brunnentränke schien zu seufzen in ihrer Wanne. Nein, auch die Fackeln vermochten es nicht zu enträtseln, warum die Tore noch offen standen. Der Wind griff in die Fackeln, dass die Schatten über die Wachsoldaten flackerten. Sie sahen plötzlich müde aus, als wären sie heimgekehrt von einem Gewaltmarsch. Ja, wenn dieser Mann etwas Weises oder Großartiges gesagt hätte, hätte der Wachhauptmann nicht gezögert. Mit einer entschlossenen Bewegung seines Arms hätte er das undeutliche Profil des Mannes zerschlagen. Doch die kühne Tat folgt einer klaren Ursache, dachte der Hauptmann und wetzte die Schneide seines Schwertes mit scharfem Blick. Aber der da war Ursache und Wirkung zugleich, Sieg und Schmach, Unsterblichkeit und unsägliche Qual der Sterblichen. Ihm war danach, die Wange des Menschen mit der Spitze seiner Waffe zu ritzen, um sein Blut zu sehen, seinen goldenen Ohrring abzuschneiden, seinen Schmerz zu sehen.
    Â» Nun gut, so will ich dich denn hinführen.«
    Ihre Schritte hallten auf dem Natursteinpflaster. In der Ferne wurde die Sänfte einer bedeutenden Matrone vorübergetragen. Der Markt roch nach gärenden Früchten. Sie gingen langsam, denn sie wussten nicht, was ihnen bevorstand. Der Hauptmann dachte: Dieser Mann geht, als müsse er den ganzen gegangenen Weg in seinem jeweils letzten Schritt mitschleppen. Vielleicht weiß er ja wirklich etwas Unvorstellbares, Erhellendes; dann bin ich gewöhnlicher Dummkopf besser dran als er! Und für einen Moment war der alte Wachsoldat ganz gerührt über sich selbst.
    Der Hohe Patrizier war Statthalter des Imperators in dieser erbärmlichen Provinzstadt. Sein Weltbild leitete sich her vom Vergleich zwischen dem großen Rom und dieser

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