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Seelenasche

Titel: Seelenasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Zarev
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während ihr Kopf versuchte, alle verfügbare Einbildungskraft zu mobilisieren, damit sie sich vorstellen konnten, wie man die zwei Hälften eines abgeschlagenen und durchgehauenen Kopfes wieder zusammenfügt. Nun roch es im Saal schon nicht mehr so sehr nach Angst, sondern mehr nach Erleichterung und teurer Pomade. Der Hohe Patrizier fühlte sich unsterblich.
    Der Mensch lag unterdessen in Ketten im Verlies. Er sah aber nicht unglücklich oder eingeschüchtert aus, sondern nur ungeduldig. Seine Augen tasteten die Dunkelheit ab, sahen darin nichts als Dunkel. Er hatte seine Jünger vor der Stadt zurückgelassen, damit sie lernten, Angst auszuhalten. Er hatte sie zurückgelassen, ohne sie durch eine Andeutung zu beunruhigen oder zu erschrecken; darum waren sie völlig schutzlos. Er hatte sie ihrem eigenen Mut überlassen, das heißt, ihrem Glauben, dem Glauben, dass er ein Wunder vollbringen könne! Allein unter den römischen Herren und dem Stumpfsinn der Pharisäer, musste der Mensch beweisen, dass er unverletzlich, dass er Gott war, ihr Gott, der einzig mögliche, sichtbare, auf die Erde herabgestiegene Gott. Er war müde geworden, die Leute zu überzeugen, zu müde, um immer wieder auf dem Wasser zu wandeln, die Hungrigen mit zwei Fischen zu sättigen und Lazarus von den Toten aufzuerwecken, und morgen wäre dann das nächste, das unglaublichste Wunder an der Reihe: Er würde seinen Jüngern Glauben und Gold bringen!
    Am Mittag stand die Sonne wie festgeschmiedet am Firmament; die Zeit stand still. Die Hitze wurde unerträglich, die Frauen nachgiebig, die Männer gereizt. Die Stadt reifte der Weisheit zu. Die Dümmeren suchten eine Antwort, die Klügeren die richtige Frage! Nur der Statthalter war ruhig, denn er war sicher, der Stadt ein Spektakel allerersten Ranges verschafft zu haben, und nun sonnte er sich im Glanze seiner Macht. Mit Einbrechen der Nacht wäre es vorbei mit seiner grauen Durchschnittlichkeit, Herr über eine derart abgeschiedene Pvovinzstadt zu sein; dann würde er in aller Munde sein, würde Wort werden, sich erheben über alle, alle. Das Getratsche über seine große Weisheit würde sich zum Gerücht verdichten, das Gerücht zum Mythos, und als Mythos … hätte er schon Eingang gefunden in die unvergänglichen Chroniken. Der Springbrunnen schickte seinen Silberstrahl zum Himmel, die Zeit setzte sich wieder in Bewegung, die Sonne begann, die Schatten zu verschieben, und die Hetäre weinte, ohne recht zu wissen, worüber.
    Im Wachsen des Dunkels wuchs die Kraft des Feuers. Mit verspannten, eingeschlafenen Gliedern lauschte der Mensch in die Unendlichkeit der Zeit und sagte sich: Wenn die Leute in dieser Stadt hellsichtig genug sind, werden sie sich schon besinnen! Ich jedenfalls halte nur noch bis Sonnenuntergang durch. Die Dümmeren suchten eine Antwort, die Klügeren nach den richtigen Fragen.
    Da kam der Berater des Statthalters – ein Greis, weise wie sein Reichtum und gefühllos wie sein baldiger Tod – herein und verneigte sich so tief vor seinem Herrn, dass sein schlohweißes Haupt fast den Boden berührte. Dieser fragte mit lasziver Vorfreude:
    Â» Seid Ihr bereit ?«
    Â» Ich komme im Auftrag aller, um mit euch zu reden«, erwiderte der Weise.
    Â» Und ich, muss ich dich anhören ?«
    Â» Wir alle haben dir etwas Wichtiges zu sagen.«
    Â» Über die Toten ?« Der Hohe Patrizier lachte und saugte genüsslich den Duft des abendlichen Gartens vor seinem Gemach ein.
    Â» Nein, über die Lebenden.«
    Die beiden standen sich gegenüber, getrennt nur von ihrer Verachtung füreinander, ihrem Misstrauen gegeneinander. Die Sekunde schaukelte wie ein Herbstblatt in der Luft, dann trug der Wind der Zeit sie fort. Die Stadt war in Schreckstarre, denn das Rätsel war schon aufgelöst, und die Stadt wusste Bescheid!
    Â» Wie dir bestens bekannt ist«, begann der Weise mit verhaltener Stimme und tastete zur Sicherheit nach dem Dolch im Ärmel, zu dem ihm die Hellsichtigsten geraten hatten, » fährt mit dem Tod alles in die Grube. Er deckt alles zu: die Lüge, die Gemeinheit, die Unverschämtheit und die Blasphemie. Die Toten nehmen ihre Geheimnisse mit ins Grab, die Gewalt, die sie verübt haben, und die, die an ihnen verübt wurde, geht mit ihnen zur Mehrheit über und entlastet unser Gewissen – darum brauchen wir den Tod.«
    Â» Was

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