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Seelenasche

Titel: Seelenasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Zarev
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Auch der kleine Assen in ihrem Bauch hörte auf mit seiner kleinen hungrigen Machtdemonstration.
    Dessislava trat sich die Pantoffeln von den Füßen, stieg in die nächstbesten bereitstehenden Schuhe und flog durch die Wohnungstür hinaus. Die Straße sah im gelblichen Licht der Laternen aus wie eine Schaufensterauslage. Die Luft roch feucht und rauchig nach Laubfeuer. Sie schaute sich hastig um, dann lief sie die Ljuben-Karawelov-Straße hinunter. Christo hatte erwähnt, dass er sein Auto gleich an der Ecke zur Graf-Ignatiev-Straße geparkt habe. Wegen der vielen Passanten, die auf ihrem Gehsteig unterwegs waren, kam sie nicht so schnell voran, wie sie wollte. Der Hausmantel behinderte sie, verhedderte sich zwischen ihren Knien. Der kleine Assen hingegen hielt still, als wäre er gar nicht da. »Unser Papa«, sagte Dessislava aufgeregt durch die Zähne, »wo ist unser Papa?« Vor Angst und Aufregung blieb ihr die Luft weg. Sie befürchtete das Schlimmste. Ihre Brüste waren so schwer, als wäre nicht das helle Licht der Milch hineingefahren, sondern Blei. Fieberhaft dachte sie: Ich muss schreien, laut schreien, die Leute aufstören, aus ihrer Gleichgültigkeit reißen, sonst machen sie mir keinen Platz.
    Von der Kreuzung mit dem Patriarchen-Denkmal kam die Straßenbahn mit lautem Klingeln, doch Dessislava gelang es, vor ihr über die Schienen zu kommen. An der nächsten Ecke, in einer durch das fettiggelbe Licht schwer zu bestimmenden Entfernung, sah sie Christos Audi, wie er gerade ausscherte von der Bordsteinkante und den vor und hinter ihm parkenden Autos. Wenn sie ihn sehen konnte, dann musste er in Rufweite sein.
    Â»Christo«, schrie sie hilflos verzweifelt, »Christooo!«
    Hören konnte er sie vermutlich nicht, aber sehen. Der Audi rollte stockend näher, hielt. Dann sah sie ihn aussteigen. Lächelnd breitete er die Arme aus wie einer, der alle Schuld auf sich nahm. Nein, um sie und ihrer beider Sohn zu umarmen, sie fortzubringen, fort aus diesem gespenstischen Licht, dieser ungemütlichen Nacht, fort und ins Nest. Da krachten die Schüsse. Die ersten folgten schnell aufeinander wie aufforderndes Händeklatschen. Die nächsten kamen abgesetzt: Hammerschläge auf einen Nagel, der in eine Betonwand muss. Die beiden Schützen hatten schwarze Nylonstrümpfe über den Kopf gezogen. Sie waren so nah, dass Dessislava sich in plötzlichem Todesmut dem einen an den Hals hängen konnte. Es sah aus, als wolle sie von ihm geküsst werden. Aber er küsste sie nicht. Sondern holte aus und donnerte ihr seine Faust in den Bauch. Noch einmal seine Faust. Dann der Lauf seiner Pistole. Ihr war, als weine der kleine Assen in ihr drin.
    Â»Ch… Christo«, rief sie, so gut sie konnte. Christo hielt sich den Bauch. Überall, aus Ohren und Nase, aus Brust und Bauch schoss ihm das Blut, ihr Familienblut, ihr ungerettetes Blut.
    Erst beugte sich die Kälte über sie, dann die Gesichter eines jungen Mannes und einer alten Frau, die ihr etwas Wichtiges sagen wollten: dass Christo Schmerzen hatte, oder, noch schlimmer, dass er keine Schmerzen mehr hatte. Dann wurde es nass zwischen ihren Schenkeln. Dann löste sich der kleine Assen in einem Krampf von ihr. Dann deckte der Schmerz sie zu, Mutter und Kind. Und dann verlor sie das Bewusstsein.
31
    Weiß. Steriles, bis zur Schwärze getriebenes Weiß. Das war ihre erste tastende, von Selbstekel begleitete Empfindung. Als sie die Augen öffnete, wusste sie augenblicklich, dass sie leer war, dass sowohl der kleine Assen als auch Christo nicht mehr bei ihr waren. Sie hätte sich übergeben mögen. Weh tat ihr aber nichts, da man sie mit schmerzstillenden Mitteln vollgepumpt hatte. Sie nahm sich wahr wie einen Ballon, der durch die Luft trieb, sah sich durch die Leere ihres Bewusstseins schweben.
    Im Bett neben ihr lag jemand. Nur das Ächzen verriet, dass er nicht tot war. Ein Plastikröhrchen steckte in seinem Hals, und das Leben, das er eingeflößt bekam, konnte ihn genauso gut ersticken. Auf dem übernächsten Bett lag ein nackter Mann. Er hatte ein bläuliches Tattoo auf der Schulter, eine Nixe mit wallendem Haar. Sein Glied hing schlaff und abgeknickt zur Seite. Dem Geruch nach zu urteilen, war die Toilette in der Nähe, denn es roch nach Chlorkalk und Desinfektionslösung. In diese penetranten Substanzen mischten sich Chloroformgestank, der Äthergeruch

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