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Seelenasche

Titel: Seelenasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Zarev
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die ganze Zeit?«
    Daniela kurbelte die Fensterscheibe herunter, um ihren Zigarettenstummel hinauszuwerfen. Feuchtkalte Luft drang herein. Dann sagte sie:
    Â»Hoffentlich hat sie nicht beide verloren …«
    Â»Ich versteh nicht …«
    Sie hatten inzwischen die Pentscho-Slawejkov-Straße erreicht, an deren Ende das Krankenhaus lag.
    Â»Es ist zwar irgendwie absurd, unmöglich, aber wenn ich so genauer nachdenke …«
    Â»Du willst doch nicht etwa sagen«, kam Jordan die Erleuchtung, »dass Dessislava heute Abend nicht nur ihr Kind verloren hat, sondern auch den Vater, weil das Kind von …«
    Â»Das ist ja nebensächlich«, beeilte Dida sich, ihn zu unterbrechen, aber man sah ihr an, dass sie genau das dachte.
    Â»Aber er ist unser Vetter!«
    Â»Ach wo«, wiegelte Dida ab.
    Â»Aber das … dann … die beiden … Das ist doch Inzest!«
    Â»Wie konnte ich nur die ganze Zeit nichts bemerken«, schluchzte Dida los. »Jeder von uns hat nur auf seinen Bauchnabel gestarrt. Gott, was sind wir Menschen doch für Egoisten!«
33
    In den langen Gängen des Pirogov-Krankenhauses echoten die vielen menschlichen Stimmen wie in einem Hallenbad. Überall Leute mit vergipsten Armen oder Beinen, füllige Schwestern, die Rollstühle vor sich herschoben, in denen verängstigte Kinder oder bewusstlose Alte saßen. Es roch nach Putzmittel und medizinischem Alkohol, nach Chlorkalk und scharf nach unausgespülten Bettpfannen, nach sterilisiertem Elend und einem ständigen Rein und Raus menschlichen Leids. Der diensthabende Arzt in der Chirurgie hatte sich schon seit zwei Tagen nicht mehr rasieren können. Er litt an Rosenflechte.
    Â»Herr Weltschev? Sie sind es doch, nicht wahr? Freue mich sehr«, sagte der Mediziner. Er war über das Erscheinen des berühmten Besuchers sichtlich überrascht und erfreut. Er hatte sich hinter den wackligen alten Schreibtisch gesetzt und wippte mit seinem weißen, fast schon unanständig abgelaufenen Clog. »Trotzdem – niemand, auch Sie nicht, kann jetzt zu der Patientin hinein. Wir sind hier nicht beim Fernsehen, sondern auf der Intensivstation eines Krankenhauses.«
    Â»Meinem Mann ist nicht gut«, meldete sich Dida, als seien sie drei alte Freunde, »verstehen Sie, er ist nicht bei sich.«
    Â»Ihre Schwester, Herr Weltschev, hat ihre Frucht verloren, ist aber selbst Gott sei Dank über den Berg.«
    Â»Er war so außer sich, dass wir unterwegs fast einen Unfall gebaut hätten«, sagte Dida und schüttelte ihr Haar.
    Der Arzt war schon im vorgerückten Alter und kannte Jordan aus dem Fernsehen sicher mehr als zwanzig Jahre.
    Â»Gut, Herr Weltschev, Sie können mal kurz reinschauen, um Ihre Schwester zu sehen. Aber wirklich nur ein, zwei Minütchen, ja?«
    In der Reanimation war es gleißend hell. Die an den Wänden angebrachten Geräte und Apparaturen blinkten und surrten; Kabel und Schläuche überkreuzten sich; zittrige Linien überquerten Monitore … Man konnte den Eindruck gewinnen, in einem modernen alchimistischen Laboratorium gelandet zu sein. Es roch nach medizinischem Alkohol, Franzbranntwein, Urin und Erbrochenem. Dessislava lag nackt da, nur nachlässig mit einem von der häufigen Wäsche und dem Licht vergilbten Laken bedeckt. Der Mann neben ihr ächzte, schnaufte und stöhnte und hatte im Koma eine Erektion bekommen.
    Â»Dessi, Schwesterlein«, sagte Jordan und deckte ihre nackten Brüste zu, um nicht loszuheulen.
    Sein Schwesterlein aber schwieg wie leblos.
    Â»Dess, hörst du mich?« Dida streichelte ihr sanft über die Wangen. »Du wirst schon wieder, Herzchen, hörst du … Wir sind doch bei dir, wir sind doch da!«
    Â»â€¦ch …ch weiß«, antwortete Dessislava überraschend klar und deutlich, aber ohne ihren Blick von der Decke zu ihnen zu drehen.
    Â»Wir sind alle zusammen und werden immer zusammen sein«, sagte Jordan, dem plötzlich einfiel, dass irgendwer in der Familie, der Dessislava etwas bedeutete, diese platte, hohle Phrase ständig wiederholt hatte, als seine Stiefmutter Emilia und sein Vater sich scheiden lassen wollten, am Ende aber doch zusammenblieben.
    Â»â€¦ch …ch weiß.« Man hatte den Eindruck, Dessislavas Stimme bliebe in ihrer Mundhöhle.
    Â»Wir haben dich lieb, ja, so blöd es ist, das zu sagen: Wir alle lieben dich!«
    Â»â€¦ch …ch

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