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Seelenasche

Titel: Seelenasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Zarev
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ihr der schöne Engel mit dem weißen und dem schwarzen Flügel, gehörte nun eben zu denen, die schon unabwendbar eingeschrieben waren in die Zeit; und er legte ihr wieder den Finger auf die Lippen: Schweige!
    Genauso flog sie, als sie gerade im Park am Perlowo-Kanal saß und wie eine Amme aus alter Zeit mit der Milch des kleinen Assen Jona geduldig die Brust gab, die Gewissheit an, dass Jana nicht nach Bulgarien zurückkehren würde. Jana würde in Bamberg heiraten, aber nicht ihren schönen Studenten der Theologie, sondern dessen Professor, der sich bereits einen Namen gemacht hatte damit, mit Leibniz gegen die aktuellen Verniedlichungen zu streiten, dass Gott die Liebe sei, das Mitleid oder die Macht. Nein, er bettete die Lehre Leibniz’ von der prästabilierten Harmonie ein in aktuelle ästhetische Theorien und befreite so das Nachdenken über Gott vom unerträglich gewordenen Gutmenschentum der politisch Korrekten.
    Es ging auf Weihnachten zu. Jona hatte Koliken und weinte ganze Nächte durch, oder sie versuchte einfach, ihren Willen durchzusetzen, wer wusste das schon, da sah Dessislava in ihrem Schlafentzug ihren Vetter Krum Krumov Marijkin, den sie Ewigkeiten nicht gesehen hatte. Auf rätselhafte Weise, so sah sie, wurde dieser Millionär, zog aus Widin fort nach Sofia mit einer seltsam hässlichen und dann wieder momentweise schönen Frau, die er Gergina nannte. Die beiden kauften etwas in einem Gewerbegebiet von Sofia und bauten eine Fabrik für einbruchssichere Türen auf, die rasch einen guten Ruf bekommen sollten, weil sie nicht mehr so hässlich waren wie die bisherigen Metallungetüme, sondern verkleidet waren mit edlem Holz oder Holzimitaten für jeden Geschmack, und doch garantiert weder Feuer noch Einbrecher ins Haus ließen. Den Eheleuten Krum und Gergina Marijkin würden Zwillinge geboren, Jungen von engelsgleicher Schönheit, und eine hässliche, aber auf seltsame Weise anziehende Tochter. Bei der Vorstellung, Krum Krumovs Zwillinge könnten sich beide in Jona verlieben, geriet Dessislava in Panik, denn diese Liebe würde genauso groß, unerfüllbar und tragisch enden wie die ihre zu Christo. Doch dies mit Gewissheit voraussehen zu können, war ihr nicht gegeben.
    Nach den großen Frostwellen um Neujahr nötigte ihre Gabe sie, auch einen Blick in ihre eigene Zukunft zu tun. Sie würde, sobald Jona ihr die Zeit dazu ließ, mit großem Erfolg »ihren« Hamlet wieder inszenieren, erfolgreich auch Drei Schwestern von Tschechow, aber einen Reinfall erleben mit der Möwe des russischen Dramatikers. Dieses Vorauswissen vergällte ihr die Hellseherei zunehmend, und sie sehnte sich danach, wieder ein einfacher Mensch zu sein, der das Leben als Geheimnis erfuhr. Christo tauchte nicht in ihren Träumen auf, aber manchmal spürte sie ihn, wie er linkisch versuchte, Mann zu sein zwischen ihren Schenkeln. In diesen Augenblicken ging sie durch ein Wechselbad der Gefühle. Wie oft betete sie darum, der Engel mit dem weißen und dem schwarzen Flügel möge wiederkehren und ihr, wenn schon nicht die übersinnlichen Fähigkeiten, so doch wenigstens die Last ihrer Liebe zu Christo abnehmen. Sie ging in die Kirche Siebenheiligen und verbrachte eine ganze Stunde vor der Ikone des Heiligen und großen Märtyrers Mina, der, wenn man mit reiner Seele kam, Wünsche erfüllte – doch auch das half nicht. Die Gesichte, die ihr Herz und ihre Einbildungskraft heimsuchten, wurden mit der Zeit seltener, aber verschont wurde sie nicht, denn sie war gezeichnet, berufen und vorbestimmt. Einmal sah sie ein prächtiges Feuerwerk über einem Platz mit vielen Menschen, die sie an die Demonstrationen nach dem Fall der Berliner Mauer und des Eisernen Vorhangs erinnerten. Die Feuerwerke begannen sich zu drehen und formten sich zu zwölf Sternen auf blauem Grund. Das waren aber nicht die Erzengel, sondern das Symbol der Europäischen Gemeinschaft, in die Bulgarien Anfang 2007 trotz vieler Skeptiker aufgenommen wurde, und Dessislava fühlte für und mit ihren Landsleuten diesen Beitritt als eine Rückkehr , eine Genugtuung, eine Wiedergutmachung nach so vielen Jahrzehnten, Jahrhunderten der erzwungenen Abtrennung durch Großreiche, Großmächte, und als Beginn eines langen, langsamen Weges zu sich selbst.
    Häufiger träumte Dessislava einen breiten Fluss, von dem sie nur aus den Erzählungen Jonkas

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