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Seelenasche

Titel: Seelenasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Zarev
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Mikadostäbchen zu Christos Füßen zerstreuen, dann fuhr sie sich mit der Hand an die Wangen, weil sie dachte, sie weine; aber als sie ihre Augen berührte, waren die vollkommen trocken. »Damit wir wissen, was so in deinem Kopf rumgespukt hat. Du siehst ja, bin doch gekommen! Heute Abend werde ich auch unseren Kleinen bitten, dir zu verzeihen. So, und jetzt muss ich gehen. Jona ist allein und hat Hunger und wartet auf mich.«
    Sie nahm den ganzen Willen ihrer Hoffnungslosigkeit zusammen und schaffte es so, sich aufzurichten und gen Westen, dem Abendhimmel zu, fortzugehen. Die Hunde begleiteten sie mit um das Erhoffte betrogenen Augen, denn Blumen konnten sie ja nicht fressen, Wein nicht trinken, das Stückchen Brot war schon steinhart. Und Worte und menschlicher Kummer nährten sie nicht.
39
    Das da begann schon in der Nacht, bevor sie auf der Reanimation des Pirogov-Krankenhauses aus der Bewusstlosigkeit erwachte. Da war dieser Abgrund, der sie magisch anzog. Schwarzfunkelnd. Sie hatte sofort Zutrauen zu ihm, tauchte ein in seine Tiefen, bis ein warmes Licht vor ihr auftauchte. Da drang die Stimme Jonkas zu ihr, raunend, behütend: »Es ist noch zu früh für dich, Kindchen! Kehr um zu deinen Wurzeln, zu dir … und: Halt sie zusammen, die Sippe! Damit dir das wirklich gelingt, musst du sie nehmen, wie sie nun mal sind, und ihnen verzeihen!«
    Sie öffnete die Augen. Die nackte Glühbirne über ihr wirkte schwer wie eine Blase, die mit einem anderen, toten Licht gefüllt war. Sie bekam Angst, die Blase könne platzen, das eiterfarbene Licht auslaufen und sie ertränken. Der widerliche Geruch von Schmerzmitteln, stark wie die allerletzte Hoffnung, machten ihr das Atmen schwer. »Damit du ihnen aber verzeihen kannst«, meldete sich die Stimme Jonkas wieder aus der Tiefe, »musst du zugleich allein sein und mit allen. Du musst die aufblitzenden Zeichen der Zeit auf dieser nicht gut eingerichteten Welt verstehen lernen und … dich selbst lieben.« Dessislava spürte die ziehende Leere in ihrer Gebärmutter und wusste auf einmal, dass sie beide verloren hatte, Assen und Christo, und nun für immer kinderlos bleiben würde, kinderlos und allein, für immer allein, damit sie für alle da sein konnte ! Da hatte sie eine Vision. Sie sah Assen, aber nicht als Embryo oder Säugling, sondern als erwachsenen Mann, hellhäutig, wohlgestaltet und groß, mit den tiefblauen Weltschev-Augen und markanter Stirnpartie. Er kam auf sie zu aus der Abenddämmerung einer öden Landschaft, brachte Gerechtigkeit und Traurigkeit und – wie sie später, als sie Christos Legende von Christus und dem Statthalter gelesen hatte, ergänzen würde: wie aus den Worten seines Vaters vom gescheiterten Jesus Christus heraustretend. Ganz hinten in dieser Unendlichkeit standen Christo und sie, umarmt, erfüllt vom Bild ihres toten Sohnes und vom Unglück ihrer lebendigen Liebe. Da begriff Dessislava auf einmal, dass eine solch himmlische Liebe auf Erden nicht möglich war. Selbst wenn Christo und Assen überlebt hätten, wäre diese Liebe dazu verurteilt gewesen, an ihrer eigenen Absolutheit zu zerbrechen.
    Ein verschwitztes Gesicht beugte sich über sie. Das Häubchen der Krankenschwester war verrutscht, ihre Stimme kam von ferne, war aber voller Mitgefühl.
    Â»Sie lächelt«, sagte die Stimme leise, »sehen Sie nur, Doktor Milanov, sie lächelt.«
    Nach der Kürettage war Dessislava schrecklich erschöpft und schlief bald wieder ein. Irgendwann später spürte sie jemandes Gegenwart wie einen Lufthauch. Es waren ihr Bruder und ihre Schwägerin Dida, die sich über sie beugten. Sie wollte gerade ansetzen, ihnen alles zu sagen, von wem sie das Kind hatte und wie es dazu gekommen war, da hatte sie ihre nächste Vision. Sie sah Dida in einem Auto eine Serpentine hinunterrasen und auf einen Laternenpfahl zusteuern. Instinktiv versuchte sie, zu rufen, um sie zu warnen, aber da hörte sie schon den Aufprall, zuerst im Kopf, dann verspürte sie im Herzen das letzte Aufstöhnen ihrer Schwägerin, fühlte, wie das Blech des alten VW Golf sich knautschte, hörte sogar Didas letzten Gedanken: »Warum hast du mich allein gelassen? Was tust du mit mir, Liebster? Ich liebe dich doch.« Als sie die Augen öffnete, waren Jordan und Dida schon nicht mehr in ihrem Krankenzimmer. Einer der anderen Patienten in der Reanimation

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