Seelenasche

dieser in Künstlerkreisen berühmt-berüchtigten Spielwiese hatte man einen Panoramablick auf den Gebirgszug des Witoscha und die an seinem Fuß sich entlangziehende Umfahrungsstraße. Das ständige Röhren der Kraftfahrzeuge unter dem erhabenen Schweigen des Berges nervte, nährte aber auch die Nostalgie nach einer versäumten und nie nachgeholten Reise. Der hohe Baukran in der Ferne glich einem reglos auf einem Bein stehenden Fischreiher.
    Bobbys Bilder waren nicht nur seltsam, sondern auch radikal unfertig. Evtimov hätte gesagt, Bobby trage in sich »eine subversive Welt aus Widerstand und Zersetzung«. Ein eindeutiges Sujet war auf den Leinwänden nicht zu erkennen, dafür aber barsten sie vor Visionen, die den Betrachter gleichsam um Hilfe anflehten. Figuren, soweit es sie gab, lösten sich auf in der Energie der Farben. Jedes der Gemälde konnte man als einen Menschen auffassen, der nichts mit seinen Artgenossen gemein haben wollte.
    Dessislava hatte einmal das Vergnügen gehabt, allein in dieser Bude zu landen. Sie hatte sich bei Bobby gemeldet, weil Samstagabend war, Simeon aber schon am Freitag glücklich im Suff versackt war. In ihrem Heftchen standen hundert Telefonnummern, aber nur eine Adresse. Tja, Erstere tauschen die Menschen gern aus; so können sie Kontakt halten, ohne gleich beisammen zu sein. Mit jemandem zu telefonieren war angenehm, weil man immer leicht und für den anderen nicht nachprüfbar einen Grund fand, das Gespräch abzubrechen.
    Sie hatte sich ein Taxi genommen und war am späten Nachmittag bei ihm eingetroffen. In der Wohnung roch es nach Farben und Terpentin, trocknenden Bildern, unfertiger Welt. Das Durcheinander im Atelier und auf dem Bett ließen sie zurücktaumeln. Letzteres war niedrig, aber groß, mit einem gerupften Ziegenfell bedeckt und wirkte provisorisch, eine improvisierte Skizze. Eine Brutstätte für Träume oder vorzeitig abgebrochenen Schlummer. Eine ungereinigte Palette war zwischen dünne Stoffturnschuhe und einen offenen, mit Kleidung gefüllten Koffer gekullert, der den fehlenden Kleiderschrank ersetzte. Dieses ganze Chaos nun hing, nachdem es durch seine Imagination gegangen war, als Bilder an den Wänden. Sie war erschüttert von dem vielen Grau auf ihnen, silbrig und kalt wie ein am Boden zerschmetterter Schrei. Witoscha bei Nacht sah aus wie der Rücken eines liegenden Tiers. Es war kühl, finster, der Raum, der Abend, die Bilder – alles unfertig. Bobby goss ihnen Wein ein und erklärte unter dem Vorwand, das Kleid stehe ihr nicht, lässig:
    Â»Das ziehst du wohl besser aus, Dess.«
    Â»Bist du nicht Sims bester Freund?«, fragte sie verständnislos.
    Rothaarig wie ein Ire, brach Bobby in lautes Gelächter aus und zitierte den alten Spruch Churchills, dass Freundschaften temporär und nur Interessen ewig seien.
    Erst jetzt gab sie sich Rechenschaft, warum sie sich bei ihm gemeldet hatte: Niemand sonst auf Gottes schöner Erde war ihr so schnurzpiepegal. In der modernen Welt ist Gleichgültigkeit der aufrichtigste Anlass für Teilnahme und Kontakt. Bei jemandem zu sein, weil man im Grunde bei niemandem sein wollte und doch nicht allein, das war rettend und angenehm wie warme Handschuhe in einer kalten Nacht.
    Sie hätte lachen und sofort wieder gehen sollen, aber der Abend kam ihr so schrecklich leer und endlos vor, nachdem Jordans Sendung Runder Tisch vorbei war. Sie stand auf, um sich die Bilder aus der Nähe anzusehen. Die Signatur in der rechten Ecke hatte etwas Spätbarockes, so vitalistisch-verschnörkelt war sie. Als sie sich wieder umdrehte, stand Bobby schon im Slip da, den Wein in der einen und die Zigarette in der anderen Hand. Er hatte vergessen, seine Uhr abzulegen, als befürchte er, er könne sich verspäten. Neben seinem Bauchnabel war die schlecht verheilte Narbe einer Blinddarmoperation zu sehen, und das stimmte sie irgendwie traurig.
    Bobby versuchte, sie aufs Bett zu werfen, atmete heiß in ihr Ohr, war aber nur mäßig aggressiv. Dessislava verpasste ihm eine knallende Ohrfeige. Die Wange wurde sofort rot, als schäme er sich. Dabei dachte sie: Der arme Kerl kommt kaum über die Runden! Wäre nicht schlecht, wenn Mutter ihm ein Bild abkaufte. Bobby haute sofort den Korken auf die Weinflasche wie der letzte Geizkragen, nahm ihre Sturheit ansonsten aber mit stoischer Gelassenheit hin. Er tat ihr die Ehre, seine Jeans