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Seelenasche

Titel: Seelenasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Zarev
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Erfahrung, das Vermächtnis der ganzen dahingegangenen Menschheit, das unsichtbar weiterwirkende Kausalitätsgesetz. Hamlet versucht, die Verbindung von Ursache und Wirkung zu durchtrennen, die Schuld auf sich zu nehmen, ohne sie auszuagieren und weiterzugeben.«
    Â»Und warum musste Rosenkranz außer Cordhosen auch noch einen weißen Kittel tragen?«
    Sie seufzte erleichtert, weil Sotirov das Prüfungsgespräch noch nicht abbrach, noch mit ihr reden wollte. Das nährte ihre Hoffnung, dass man sie ausreden und ihre süße Rache vollenden ließ.
    Â»Rosenkranz ist Hamlets Freund, verhält sich aber wie ein Arzt. Ich stelle ihn mir als Psychiater vor«, erklärte Dessislava unerschütterlich weiter. »Rosenkranz spürt das Drama, das sich in Hamlet abspielt, und hat in gewissem Umfang Mitgefühl, er ahnt die seelische Erkrankung. Sein Konformismus aber zeigt sich darin, dass er versucht, Hamlet zu heilen, statt die Welt um ihn. Rosenkranz schlägt ihm eine sinnlose Liebe vor oder eine Reise. Dänemark ist ein Gefängnis und er versucht voller Nervosität, Hamlet aus der Unfreiheit zu führen. Gerade Rosenkranz – und das schloss für mich die Möglichkeit aus, dass er Internist sein könnte – hat die Idee, die der einzig rettende Ausweg für Hamlet ist: verrückt zu werden. Hamlet kann die ihm aufgeladene Schuld auslöschen, wenn er entweder ein Dummkopf ist, oder vollkommen amoralisch, oder eben verrückt. Bedauerlicherweise aber ist er extrem anständig und intelligent. Ohne es zu wollen, suggeriert Rosenkranz ihm den einzig verbleibenden Ausweg, und Hamlet versucht, der Gewalt auszuweichen, indem er verrückt spielt – nur fangen sie da sofort an, ihn heilen zu wollen. Die Fürsorge, die man ihm zukommen lässt, bringt ihn definitiv aus dem Gleichgewicht, weil Hamlet es trotz allem vorzieht, dass Dänemark ein Gefängnis bleibt, als ein Irrenhaus zu werden.«
    Sotirov ließ erneut seine Hosenträger knallen, ihr Vater hatte sich in den Anblick des verschlissenen Bühnenvorhangs vertieft.
    Â»Ophelia wirkt in ihrer sonderbaren Traktierung des Stücks deutlich älter als Hamlets Mutter. Ist das nicht unlogisch?«
    Â»Wenn man nur das direkte Verhältnis von Ophelia und Hamlets Mutter sieht, ja; aber in Hamlets Augen ist der Altersunterschied natürlich. Gegenüber seiner Mutter empfindet er unbewusste Eifersucht, er leidet unter dem Ödipuskomplex. Er verurteilt sie nicht, sondern ist eifersüchtig wie ein Liebhaber. Ophelia gegenüber aber zeigt er nur die Sympathie des Sohnes. Hamlet schämt sich vor ihr, während sie mit ihrem praktischen Geist versucht, ihn mit ihrer demonstrativen Fürsorge zu erziehen. Ja, Ophelia ist seine eigentliche Mutter.«
    Â»Letzte Frage. Nehmen wir an, Sie inszenieren das ganze Stück, und die Handlung würde in diesem widerlichen Appartement spielen, das Sie sich da ausgedacht haben. Was machen Sie dann mit der Totengräberszene?«
    Â»Die verlege ich in den Heizungskeller oder auf den Dachboden.«
    Â»Und wenn Shakespeare noch leben würde?«, fragte ihre Mutter sichtlich erschrocken.
    Â»Shakespeare ist aber tot«, erwiderte Dessislava trocken, »wer lebt, das sind Hamlet und die Welt von heute.«
    Â»Ich will dir die Wahrheit sagen, Dess«, gab sich ihre Mutter einen Ruck und öffnete ihre Handtasche. Sie wühlte darin wie in einem Kleiderschrank, aus dem sie das rettende Kleid hervorziehen und anstelle ihres Unbehagens und ihrer Scham überstreifen könnte. Aber vermutlich suchte sie nur ihre Kopfschmerztabletten. »Das, was wir da gesehen haben, ist deine nächste Lüge, Dess.«
    Gott im Himmel, sie hatte es tatsächlich ausgesprochen – Dessislava hatte es mit eigenen Ohren gehört. Die Stille zwischen ihnen war massiv und unüberwindlich wie zwischen Gehörlosen. Evtimov schwieg versonnen. Endlich! Endlich hatte sie es geschafft, ihn zu verletzen, ihn zu erniedrigen, indem sie ihm jede Möglichkeit genommen hatte, ihr zu helfen. Frech steckte sie sich eine Zigarette ins Gesicht und blies die Rauchwolken an den schweren, ausdruckslosen und unbeweglichen Himmel der Saaldecke.
6
    Zuerst gingen sie ins Ungarische Restaurant auf zwei Wodka mit sauer eingelegtem Gemüse. Am Nachmittag, als sie sahen, dass ihr Geld nicht reichte, ging Simeon Bobby anrufen. Der kam mit dem Auto seiner Schwester und

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