Seelenasche
Welt hatte sie zuletzt vor Jahren empfunden. In einer milden Herbstnacht war sie durch das Stadtviertel Sofia-Ost heimgekehrt. Es war spät gewesen, die Stadt schlief schon, der Park der Freiheit verströmte Abendkühle. Sie wollte gerade zwischen die weit auseinander stehenden Nadelbäume eintauchen, als sie in kaum hundert Meter Entfernung ein Rudel Hirschkühe sah, das sich behutsam, mit gleichsam angespanntem Vertrauen einem Plattenbau näherte. Der Leithirsch hatte seinen Kopf mitsamt dem prachtvollen Geweih in einen Müllcontainer getaucht und sich verhakt, sodass er weder ganz hineinkam, noch sich wieder herauswinden konnte. Von der Nähe ihres Lebensraums zu den Menschen ihrer Würde beraubt, mit gerupftem, abgeschabtem Fell, aufgedunsen und ungraziös, hatten die Tiere ihre Freiheit für die menschlichen Abfälle preisgegeben.
Dieses Bild hatte sie mehr als ein Jahr lang verfolgt, und es war ihr vorgekommen wie ein Sinnbild für das, was sie umgab: eine gewaltige, im Zwielicht ausgesprochene Lüge, die Lüge ihres nicht stattfindenden Lebens.
8
Die Bühnendekoration deutete in Umrissen ein Wohnzimmer an, das so unaufgeräumt und durcheinander war wie ihr Leben. Hamlet war gekleidet wie ein Hippie und verhielt sich auch so. Die Königin trat im Nachthemd auf, der blutschänderische neue König im Pyjama, den er nach und nach auszog, bis er nur noch in Boxershorts dastand. In den dramatischsten Momenten der Handlung erschien eine Kaugummiblase auf Ophelias Lippen. Weibisch, lockig und in seinen weiÃen Arztkittel gehüllt, glich Rosenkranz einem Homosexuellen. Er sah erbarmungswürdig aus, vielleicht machten ihm die leeren Stuhlreihen zu schaffen. Emilia biss sich auf die Lippen, Sotirov ächzte und schnaufte neben ihr, als erstiege er den Gipfel des Witoscha. Er sah so erschüttert und unglücklich aus, dass er fast schon wieder komisch wirkte. Es roch streng nach Bühne und menschlichem Scheitern.
Als die Saalbeleuchtung anging, empfand Assen eine Mischung aus erschöpfter Erleichterung und unbefriedigter Neugier. Wenn es sich um Molière gehandelt hätte, hätte er sich mit dieser schreienden, provozierenden und von versteckten Perversionen zeugenden Bekleidung der handelnden Figuren wohl anfreunden können, aber bei Shakespeares Hamlet ? Sein eigenes Alter mitsamt einem tiefsitzenden traditionellen Verständnis hinderte ihn, sich eine Antwort auf diese Frage zu geben. Diese jungen Leute, dachte er nur müde, drehen die Welt auf links, als wäre sie ein Ãrmel oder ein Handschuh. Sie können fremde GröÃe nur annehmen, wenn sie sie demütigen und heftig durch den Kakao ziehen. Sie glauben nicht mehr an Schönheit, sondern sind der Auffassung, dass das wahrhaft Dramatische nur auf der hässlichen und gemeinen Seite des Lebens zu finden sei! Auf einmal kam er sich hoffnungslos altmodisch vor, ja, hatte sogar Angst, seine Tochter anzuschauen, die mit frecher Selbstverleugnung auf Sotirovs Fragen antwortete. Dessislava benahm sich wie eine unschuldig Angeklagte, die von vornherein überzeugt war, verurteilt zu werden.
Emilia war ebenfalls völlig verstört, und sie hätte sicher am liebsten geheult. Tränen beruhigten sie immer, bauten Spannung in ähnlicher Weise ab, wie das Schwitzen den Körper kühlte. Sie seufzte dramatisch, was zugleich Ausdruck von Seelenpein war wie von Koketterie.
»Das, was wir da gesehen haben, war deine nächste Lüge, Dess!«, sagte sie.
»Ich bin kein Dogmatiker«, schnaufte Sotirov, »niemand kann mir vorwerfen, dass ich gegen moderne Experimente bin, gegen eine wohlverstandene Perestrojka in der Gesellschaft und auf der Bühne. Die Bühne braucht ständige Innovation. Theater ist ein work in progress, und wenn drauÃen der Wind weht, müssen wir hier drinnen die Erkältungen zeigen.«
»Mir tut der Kopf weh«, sagte Emilia mit der Stimme der Mutter Courage, »und ich hab mein Diazepam vergessen.«
Theo wühlte in seiner Sakkotasche und murmelte: »Ich hab immer Analgin dabei. In dieser Albtraumwelt muss einem ja der Kopp platzen! Alles gerät drunter und drüber und wird wahllos zusammengewürfelt: Ernährung, Proportionen, Menschenbild, Theater. Die Heizung springt an, wenn es warm ist, der Urlaub laugt dich aus bis zur totalen Erschöpfung, und wenn du die herrlichen Satiren im Stachel liest, wird dir traurig ums Herz.
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