Seelenasche
weià und unschuldig.«
Die Luft war stickig und roch nach wilden, aber eingesperrten Tieren. Sie setzten sich auf die erstbeste Bank, die Sonne berührte mild ihr Gesicht. Sie zündete sich eine Zigarette an und kniff die Augen zusammen, bis die Umgebung verschwand und das von ihren Lidern abgehaltene Licht in ihrem Kopf zu zittern begann. Wie oft war sie Verabredungen mit Evtimov ausgewichen, hatte, wenn er anrief, einfach den Hörer aufgelegt und ihn ebenso beiläufig wie kokett aus ihren Hamlet -Proben verjagt. Simeon hatte sie dazu gebracht, ihn zu hassen. Was wollte sie denn nun noch? Warum war sie nicht einfach glücklich und zufrieden?
»Genosse Evtimov«, begann sie unschuldig, »könnten Sie mir vielleicht einmal erklären, was das bedeutet: moralisch sein?«
»Willst du mich schon wieder zum Narren halten?« Evtimov wirkte tatsächlich schwer getroffen. Sein Gesichtsausdruck verriet Resignation.
»Ich würde für mein Leben gerne wissen, ob es eine Kraft gibt, die mich von dir erlösen kann!«
»Und wenn die Antwort dir gefiele, was dann?«
»Dann würde ich dich fragen, warum du fünfzehn Jahre früher zur Welt gekommen bist als ich, warum du diese eifersüchtige âºOthellaâ¹ geheiratet und drei Kinder mit ihr gezeugt hast. Und warum, zum Teufel, du nicht einer bist, den zu lieben ich das Recht habe?«
»Das ist moralisch â¦Â«
»Was? Wenn einer wie die Affen macht, wonach ihm zumute ist, oder wenn er andere daran hindert, ihrem Vergnügen nachzugehen?«
»Der freie Mensch ist moralisch!«, sagte Evtimov zu ihrer Ãberraschung und sah dabei aus, als schmerze ihn diese Erkenntnis.
Dessislava hatte sich vor diesem widerlichen Wort gefürchtet, aber geahnt, dass sie es zu hören bekommen würde. Sie hatte es sich selbst eingebrockt. Wenn Sim davon erfährt, dann haut er ihn wirklich windelweich, dachte Dessislava müde. Hamlet kann ja nicht anders, als die Liebe umzubringen! â Aus ihrer Folkloretasche holte sie den Plastikbeutel, glättete ihn, versuchte zu lächeln.
»Ich hab dir einen Pullover gestrickt«, sagte sie leise. »Wenn du willst, kannst du ihn auch in den nächsten Abfalleimer werfen, aber besser gib ihn irgendeinem Bettler.«
»Gott, wie schön du bist. WeiÃt du das eigentlich?«
»Nein, Genosse Evtimov. Das Einzige, was ich weiÃ, ist, dass ich Angst habe!«
4
An diesem mürrisch vor sich hin rostenden Morgen war die ganze Familie zusammengekommen, um sich zu trennen. Wohlerzogen, sanft und ohne Zwang ⦠Nur die Blumen fehlten. Welche Würde ihr Vater an den Tag legte, mit welcher Darstellungskunst ihre Mutter um die Scheidung bat! Zum ersten Mal hatte ihr Bruder es nicht eilig, sondern war bis zum Durchdrehen geduldig.
In dem kleinen Saal roch es nach Betrug und Papier, das sich in Staub auflöste. Die Anwälte, die mangels Streitpunkten nichts zu tun hatten, bohrten sich in den Ohren, der Richter war geradezu begeistert von so viel gutem Betragen, verwandelten diese berühmten Menschen seine nüchterne Institution doch in eine Weihestätte. Keine gegenseitigen Anschuldigungen, kein Austausch von Beleidigungen, keine bissigen Bemerkungen â nichts als Edelmut, feierlich gehüllt in den staubigen Tüll des Lichts. Die Schreibmaschine der Stenotypistin klapperte melodiös, die Putzfrau, die in der Ecke Platz genommen hatte, lauerte schon, wann sie mit dem Reinemachen beginnen konnte. Herr im Himmel, was für eine erbarmungslose Lüge! Wie gut, dass Jonka, ihre GroÃmutter, nicht mehr lebte. Dessislava wäre vor Scham und Peinlichkeit in Tränen ausgebrochen.
Ihre Mutter war in ein schönes, schlichtes Kleid gewandet, ihr Vater in einen grauen Frühjahrsanzug, ihr Bruder schien von einem unsichtbaren Zauberbildschirm zu sprechen. Dessislava, gelockt wie ein Pudel, in Cordhosen und mit ihrer Folkloretasche auf den Knien, glich wieder einer Stoffpuppe. An wem sollte sie sich rächen? Jonka hatte gemahnt: »Der Mensch verletzt stets sich selbst, weil die, die er liebt, immer Teil von ihm sind!«
Was für eine Gutwilligkeit bis zum abschlieÃenden Handschlag, was für ein abgestandener Edelmut, was für eine verlogene seelische Prachtentfaltung! Und das heute, wo sie gleich am Nachmittag ihre entscheidende Prüfung unter den Argusaugen des heiligen Sotirov hatte. Dort würde sie zeigen, was sie von
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