Seelenasche
können. In der warmen Luft drängelte sich das Frühlingserwachen, Leben schoss saftig aus den Zweigen der Bäume, ein unerklärliches Kribbeln und Krabbeln hing in der Atmosphäre und lieà einen schnuppern. Es roch nach etwas, das noch nicht da war, oder das vorübergehuscht war, bevor man es erhaschen konnte. Die Sonnenstrahlen schmetterten klangvoll herab.
»Viel zu lange bin ich fort gewesen.« Und was, wenn dieser Perversling Evtimov nicht kam? Diese Vorstellung weckte Enttäuschung und Erleichterung zugleich. Vor dem Eingang des Zoologischen Gartens kaufte sie sich einen Luftballon, dann an der Kasse eine Eintrittskarte, und nachdem sie eine halbe Ewigkeit in ihrer eigenen Unentschlossenheit versackt war, ging sie hinein mit der ganzen Zwiespältigkeit eines Menschen, der nicht glauben will, dass der Mensch vom Affen abstammt. Sie bog ein zum vertieften Freigehege des schläfrigen, zerzausten Löwen, und als sie gerade die Gitterstäbe des Paviankäfigs erreicht hatte, sah sie ihn. Wie immer elegant gekleidet, mit Schläfen, deren Silbergrau wie ein Andenken an den Schnee wirkte, stand er mit dem Trenchcoat über dem Arm da und schaute rauchend auf die Uhr. Dessislava ging um den Käfig besonders schön gefiederter Blesshühner herum und näherte sich Evtimov von hinten.
»Na«, rief sie ihm zu, »amüsieren wir uns auch schön?«
Er wandte sich um. Ihr Puppengesicht erstarrte. Die kleine Narbe über seinen Lippen machte einen Versuch zu lächeln, seine Augen, die eigentlich blau waren, aber so undurchsichtig, dass sie einen bleiernen Schimmer hatten, nahmen sie in ihre Schwermut auf. Um sie her dunkelte es. Evtimov nickte zu den schlecht genährten Raubtieren hinüber und sagte:
»Dieses Theater gefällt mir. Wirklich. Da ist was von Beckett drin, aber radikal zugespitzt.«
Aufgekratzt von so viel gaffender Aufmerksamkeit, sprangen und kletterten die Affen umher, rüttelten am Drahtnetz und schaukelten an den aufgehängten Ketten. Sie lausten ihre Jungen, streckten die Hände bettelnd nach Popcorn und SüÃigkeiten aus. Einem Gorilla hatten ein paar Halbstarke das Rauchen beigebracht. Dieses ganze Affentheater voller groÃer und kleiner Vorfahren schien mit seinen mal roten, mal bläulichen Hinterteilen darauf zu warten, dass noch ein paar Jahrmillionen vergingen, um so zu werden wie die Wesen auf der anderen Seite der Gitterstäbe. Mensch zu sein, dachte Dessislava, war schrecklich, aber Affe â aussichtslos! Die Frage war nur: Wer ist mehr in seinem Käfig gefangen, diese unglücklichen Tiere oder wir? Ein paar Mädchen, die mit ihren rosafarbenen Haarschleifen wie Schmetterlinge aussahen, liefen voll ungestümer Tierliebe herbei, und das ärgerte sie, weil sie nicht anders konnte als zu glauben, dass die sich über ihre Kindheit lustig machen wollten.
»Der Luftballon steht dir gut«, warf Evtimov ironisch hin.
»In den Zoo geht man eben mit Luftballon, nicht mit Schlips und Kragen.« Sie presste die luftgefüllte Gummikugel zwischen ihren Händen, bis sie platzte. »Jetzt bin ich schon ein groÃes Mädchen, nicht?«
»Deine Phantasie hat mich immer begeistert. Ich mag exzentrische Frauen, alles, was schräg und absurd ist, liegt mir im Blut; aber du hättest mich der Bequemlichkeit halber ja auch unter eine Brücke oder aufs Dach der Telefonzentrale einbestellen können. Warum musste es ausgerechnet hier sein?«
Na, Gott sei Dank: Evtimov schien es auch alles andere als leichtzufallen, und das tröstete sie.
»Ich hatte doch versprochen, mit dir zum Gruppensex zu gehen, und den kannst du hinter diesen Gittern ab und zu beobachten. Betrachte das mal von der Seite.«
»Hör zu, Dess, mir reichtâs einfach.«
»Mir auch. Und was reicht dir?«
Jetzt sah Evtimov gereizt aus. In seiner Wut war er wirklich groÃartig. Seine Stimme war scharf, drohend, und die Narbe über seiner Oberlippe lief blau an.
»Hör einfach mit diesem Theater auf. Mir steht Theater bis hier! Wir leben in einer beschissenen, bankrotten Welt, und ich weià ziemlich gut, dass dir das nicht egal ist.«
»Hast ja recht«, erwiderte sie gedehnt. »Nicht mal du bist mir egal. Schlimm ist nur, dass ich pausenlos lüge, Genosse Evtimov.«
»Gibst du mir darum Stunden in Moral und Benimm?«
»Komm zu den Schwänen«, bat Dessislava, »die sind
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