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Seelenasche

Titel: Seelenasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Zarev
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bezahlte die Rechnung. Beim anschließenden Kassensturz stellten sie fest, dass sie nur noch ganze dreißig Leva und viele unerfüllte Wünsche hatten.
    Â»Jeder Misserfolg«, meinte Bobby weise, »ist ein prima Anlass, sich was zu gönnen. Blöd nur, wenn das zur Gewohnheit wird.«
    Sie beschlossen, ins Witoscha zum Stillen Winkel raufzufahren. Dessislava fühlte sich beschwipst, ihr schwindelte nach der Prüfungsanspannung. Ihre Gedanken waren klar, aber durchsichtig wie der Wodka, den sie gekippt hatte. Das Frühlingslicht strahlte müde, die Schatten der Nadelbäume flossen grau und körperlos über die Chaussee, als seien sie ausradiert worden. Maja benahm sich, als wäre sie mit Bobby verheiratet. Sie machte ihm Vorwürfe, dass er zu schnell führe und das Fenster zu weit heruntergekurbelt habe; bei dem Durchzug würden sie sich alle noch eine Erkältung holen. Als er das Fenster brav geschlossen hatte, meckerte sie, ihr sei schrecklich warm.
    Der Stille Winkel erwies sich als schrecklich lautes Lokal. Ihr Tisch stand unter den riesigen Lautsprechern, sodass alles nur ein einziges rhythmisches Dröhnen war, das ihr bis auf die Knochen drang. Die Musik strömte nicht in den Raum, der Raum war Musik, und die Musik betäubte sie. Sogar der Zigarettenrauch schien sich zu winden, um nicht zerquetscht zu werden. Die holzverkleidete Decke hinterließ den Eindruck, dass sie sich im Inneren eines riesigen Musikinstrumentes befanden. Ein großer Wodka kostete hier zwei Leva achtzig, was bedeutete, dass ihr Geld für zehn Gläser reichte – dahinter lag eine groteske Zukunft voller Rausch, Finsternis und Ungewissheit.
    Maja spielte weiter die verschreckte Ophelia, die sich sicher war, dass man sie betrog. Sie hörte nicht auf zu plappern, was vielleicht die beste Art zu schweigen war. Mit ihrem langen, bis zum Po herabfallenden Haar und ihrem unterwürfigen Gesichtsausdruck, ihrer theatralischen Gestik und ihrer kehligen, fast vulgären Stimme hatte sie beste Voraussetzungen, um eine richtige Charakterdarstellerin zu werden. Simeon schien den Hamlet abgestreift zu haben. Er sah bedrückt aus. Sein Mitgefühl sah an ihm aus wie ein viel zu kleines Sakko. Er verbarg seine Anbetung nicht und machte es Dessislava schwer, sich zu konzentrieren. Er wusste auch nicht, warum, aber seit einer halben Stunde hielt er ihre Hand. Seine Finger streichelten die ihren. Das kam ihr so befremdlich vor, als beobachte sie andere Leute am Nebentisch. Seine Stimme übertönte nur mit Mühe die Musik.
    Â»Das sind Blödmänner, Dess, die verstehen nix von Theater!«
    Maja unterbrach ihn: »Immerhin hat Sotirov dich nicht in Stücke gerissen, sondern dir großmütig die Chance gegeben, die Scharte auszuwetzen.«
    Â»Halt die Klappe«, regte sich Simeon auf, »soll sie etwa sich selber ändern?«
    Â»Warum hast du dir denn ausgerechnet den Hamlet aufgehalst?«, fragte Bobby versöhnlich. »Hättest dir ein aktuelles bulgarisches Stück aussuchen sollen, je blöder, je besser! Unbegabung beruhigt die Leute und stimmt sie gnädig. Die ist ihnen einfach sympathisch. Du aber hast an deren Grundfesten rumgeschraubt, Dess … Eine größere Frechheit als die, deinem Lehrer was beizubringen, gibt’s in der akademisierten Kunst nicht.«
    Sie taten wirklich alles, um sie abzulenken; darum waren sie auch mit ihr hergekommen. Nach ihrem Verständnis musste Dessislava jetzt todunglücklich sein; sie war aber einfach nur schrecklich müde. Im Grunde hatte sie es nämlich so gewollt. In einer Welt, in der die Wahrheit, die man wahr nahm, verboten war, konnte man die anderen nur verletzen, wenn man zugleich sich selbst wehtat. »Das war doch nur deine nächste Lüge, Dess«, hatte ihre Mutter prompt gesagt. Nur dass in ihrer »nächsten Lüge« mehr Wahrheit enthalten war, als diese ernsthaften, vernünftigen und vertrockneten Leute sich vorstellen konnten. Gutwillig und intelligent, aber tot.
    Â»Eigentlich alles total easy«, sagte Simeon gequält, »brauchst uns nur in Samt und Seide zu hüllen, die Bühne mit altem Kram vollzustellen, und vor meinem ersten Auftritt lässt du die Fanfaren festlich erklingen. Ach ja, und Rosenkranz umarmt mich natürlich nicht, sondern macht eine tiefe Verbeugung vor mir …«
    Sie fühlte sich so leicht und frei, dass sie das Gefühl hatte, gleich

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