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Seelenasche

Titel: Seelenasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Zarev
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dieser würdigen Kulissenschieberei blind gewordener Egoisten hielt. Hamlet war ihre letzte Chance!
5
    Das Bühnenbild war leicht, fast geisterhaft: moderne Möbel, die den Raum einer zeitgenössischen, kleinbürgerlich eingerichteten Wohnung umrissen. Im Bühnenhintergrund hing der einzige antike Einrichtungsgegenstand – ein runder, fleckiger Spiegel, der aber nicht das Wohnzimmer reflektierte, sondern das Unvergängliche und den Mond symbolisierte. Den Mond, weil er ja für das Unbewusste stand. Hamlet und Ophelia trugen Nietenhosen und schlabbrige Pullover, Rosenkranz einen Arztkittel. In diesem Appartement herrschte permanent Enge. Die Deckenstrahler schufen die Anmutung einer nicht enden wollenden Nacht.
    Ophelia war einfach hinreißend, wie sie auf ihrem Kaugummi kaute und lässig hinwarf: »O mein Prinz …« Hamlet wurde zur komischen Figur, was ungeheuerlich war, aber gerecht. Der belachte Mensch ist einsam und sozial gebrandmarkt, und der verspottete dänische Prinz war ja die Inkarnation der Einsamkeit. Dessislava spürte im Nacken, wie in Sotirov langsam der göttliche Zorn hochkam. Das Gesicht ihrer Mutter füllte sich mit dem Ausdruck von Kleinmut und Scham. Dessislava, die ohnehin schuld an der Migräne ihrer Mutter war, war sich sicher, dass sie Kopfschmerzen hatte. Ihr Vater sah bedrückt aus, aber nicht enttäuscht. Er schien sich eher anzustrengen, zu begreifen, was da auf der Bühne vorging. Seine Finger glitten nervös über die Armlehnen seines Klappstuhls. Nach ihrem zweiten Scheidungstermin am Vormittag waren ihre Eltern voller Gutwilligkeit gegen sich, Gott und die Welt erschienen (jene Welt, die sie ihr genommen und zerstört hatten). Hinten im fast leeren Parkett saß im Schatten des ersten Rangs ihr Vetter Christo Weltschev, der ihr beim letzten Gong seine hochgereckten Daumen gezeigt hatte. Neben ihr saß Evtimov, und sie hatte die Gelegenheit, ihn zu beobachten. Er sah verstört und traurig aus, wohl weil sie ihm gerade die letzte Hoffnung raubte, sie verteidigen zu können. Es duftete unendlich verlockend nach Theater, nach etwas Wunderbarem und Unrealisierbarem. Nach Lüge …
    Der Vorhang fiel mit dem Zischlaut verschlissenen Samts und holte sie aus der Nacht. Im leeren Parkett wurde es hell, unter dem überhängenden Rang ertönte Christos Klatschen, das, da es zu laut war und von niemandem aufgenommen wurde, wie eine Verspottung wirkte. Die Stille danach war so lang und drückend, dass Dessislava der Schweiß ausbrach. Schließlich ließ Sotirov unwillkürlich seine breiten Hosenträger knallen.
    Â»Ich erlaube mir zu fragen, Kollegin«, sagte er verdächtig jovial, »warum Sie Shakespeares Helden in Cowboy-Kleidung gesteckt haben.«
    Sie hatte diese Frage erwartet, musste darauf spöttisch und dreist antworten.
    Â»Hamlet steckt vom Scheitel bis zur Sohle in seinem Zwiespalt, ist hin- und hergerissen von seinen Zweifeln, er ist der Prinz des Zweifels und der Einsamkeit«, sagte sie mit bissiger Ironie, »und die sind eben typische Merkmale des modernen Menschen. Wohin wir auch schauen, sehen wir Shakespeares Helden, und mit Hamlets können wir die Wände tapezieren, genauso mit den plakativen Ideen der …« Sie sprach das Wort »Perestrojka« nicht aus, aber alle dachten es. »Also die Leute zerbrechen sich den Kopf, leiden, und tun am Ende gar nichts. Ich wollte, dass die Bühne nicht den historischen Bezug verstärkt, sondern das Zeitlose im Unterbewusstsein des Helden.«
    Sotirov betrachtete sie aus aufmerksamen, aber bösen Augen, ihre Mutter fächelte sich mit der Hand Luft zu, Evtimov litt still vor sich hin.
    Â»Und was darf ich mir darunter vorstellen, unter diesem ›Zeitlosen im Unterbewusstsein des Helden‹?«, fragte Sotirov sardonisch.
    Â»Er hat einen Schuldkomplex. Hamlet hat begriffen, dass man den Teufel nicht mit Beelzebub austreiben kann. Wenn er auf den Mord an seinem Vater mit einem Mord antwortet, tritt er nur eine Gewaltspirale los. Hamlet begreift, dass die an seinem Vater verübte Gewalt sich mit Gewalt nicht beseitigen lässt, weil sie nur alles schlimmer macht. Der Geist seines Vaters ist eigentlich eine ephemere, irreführende Gestalt; er ist ein Hinweis, dass der Mensch, sobald er geboren ist, keine Wahl hat. Er muss entweder Gewalt anwenden oder Gewalt erleiden. Der Geist des Vaters ist die überlieferte

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