Seelenband
noch immer. Und plötzlich fiel Valerie auf, dass sie tatsächlich nichts über ihn wusste. Vielleicht hatte er ja eine Frau, Familie, jemanden, dem er nur schwer würde erklären können, wieso er plötzlich mit einer fremden Frau essen ging. Verlegen wandte sie sich hastig ab. "Wenn es Sie allerdings in Schwierigkeiten bringen würde, mit Ihrer Frau zum Beispiel ...", stammelte sie.
"Nein, keine Schwierigkeiten", sagte er.
Valerie blickte überrascht hoch. Hatte er nun eine Frau oder nicht?
"Vielleicht ist es doch eine gute Idee, das Leben zu feiern", fügte er ernst hinzu.
"Gut." Valerie atmete erleichtert auf. "Passt es Ihnen morgen?"
"Nein. Sonntag, vielleicht."
"Gut, also Sonntag. Wo treffen wir uns?"
"Ich hole Sie hier ab."
Valerie lächelte. "Genau hier?" Sie deutete auf die Stelle, auf der sie stand.
"Ja."
Sie verabredeten sich für zwölf Uhr und Valerie machte sich auf den Weg zu ihrer Wohnung. Als sie sich an der Haustür umblickte, stand John tatsächlich noch immer auf der Straße und sah ihr hinterher. Sie winkte ihm zu und öffnete die Tür. Bevor sie die Tür hinter sich wieder schloss, sah sie, wie er sich abwandte und langsam davon ging.
Langsam ging John die dunkle Straße entlang. Die Lebendigkeit, die er kurzzeitig in Valeries Gesellschaft verspürt hatte, fiel von ihm ab, je weiter er sich von ihr entfernte. Er spürte, wie die Dunkelheit wieder von seiner Seele Besitz ergriff, und wünschte sich nicht zum ersten Mal, er könnte sich in der Nacht einfach auflösen, endlich dem immerwährenden Schmerz entkommen, den er nicht hatte überleben sollen und den er allen Wahrscheinlichkeiten zum Trotz dennoch überlebt hatte. Nur um ihn für den Rest seines Lebens in sich zu tragen. Eines Lebens, dem er nur zu gern ein Ende gesetzt hätte. Und doch konnte er es nicht tun. Hatte es damals nicht gekonnt, als die dünne verzweifelte Stimme ihn aus dem finsteren Abgrund des Nichtseins zurückgeholt hatte, und würde es auch in Zukunft nicht schaffen. Nalla brauchte ihn. Für sie hatte er mehr erduldet, als er je geglaubt hatte, aushalten zu können. Und er würde es weiterhin tun. Für sie würde er alles auf sich nehmen. Solange sie ihn brauchte, würde er am Leben bleiben.
John beschleunigte seinen Schritt, als seine Handgelenke zu brennen begannen. Er rannte los, als der Schmerz sein Herz erreichte. Er keuchte und nur der Gedanke an Nalla hielt ihn aufrecht. Er rannte, so schnell er konnte, doch er wusste, er würde dem Schmerz nicht entkommen können. Niemals. Bloß der Anfall würde vorbeigehen und der Schmerz sich auf das erträgliche Maß reduzieren, an das er sich mühevoll gewöhnt hatte. Er durfte nur nicht so viel nachdenken. Es wurde immer schlimmer, wenn er nachdachte. Vielleicht war das die Strafe dafür, dass er den Schmerz in Valeries Anwesenheit hatte leichter verdrängen können. Sonst hatte nur Nalla diese Wirkung auf ihn gehabt. Doch mit ihr war das richtig. Immerhin lebte er nur für sie. Mit Valerie jedoch war es falsch, völlig falsch. Sie dürfte diese Wirkung nicht auf ihn haben. Er fühlte, dass der Schmerz noch an Intensität zunahm. Er stolperte und spürte, wie seine Sinne zu schwinden begannen.
Nein! fuhr es ihm verzweifelt durch den Kopf. Das darf nicht passieren, nicht nach all der Zeit! Nalla braucht mich!
Er versuchte, seinen Geist mit Bildern von ihr anzufüllen. Wie sie glücklich gelacht hatte, damals, bevor das alles passiert war. Wie traurig und vertrauensvoll sie jetzt wirkte, wenn er ihr schlafendes Gesicht betrachtete. Wie sie lächelte, wenn er in ihrer Nähe war.
Der Schmerz ließ allmählich nach und John richtete sich langsam auf. Seine Handgelenke kribbelten - eine Erinnerung an das Brennen, das er vor wenigen Minuten verspürt hatte. Als ob er es sonst hätte vergessen können!
Es war ein Fehler gewesen, Valeries Wunsch nach einem weiteren Treffen nachzugeben. Wenn er sich schon heute dermaßen gequält hatte, mochte er sich nicht ausmalen, was ihn am Sonntag erwarten würde. Er würde ihr sagen, dass es ein Fehler war, und es dabei bewenden lassen.
In Gedanken vertieft, merkte er kaum, wie er seine Wohnung erreichte, falls man das überhaupt eine Wohnung nennen konnte. Es war kaum mehr als eine Kammer hinter einer großen Lagerhalle, die aber zumindest über ein kleines Badezimmer und eine Küchenzeile verfügte. Immerhin war die Wohnung billig und der Vermieter stellte keine Fragen.
Als er sich der Tür näherte, schreckte plötzlich eine Gestalt aus den
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