Seelenband
freien Tisch und beschloss, ein paar Minuten zu warten, um zu sehen, ob er nicht doch noch auftauchte - aus dem Lager vielleicht oder aus den Waschräumen. Aber er war nirgends zu sehen. Stattdessen kam die blonde Kellnerin zu ihr herüber und fragte sie nach ihren Wünschen.
"Ist John heute nicht da?" fragte Valerie plötzlich besorgt. Sie hoffte, dass ihm auf dem Heimweg letzten Abend nichts passiert war.
"John?" fragte die junge Frau überrascht nach und musterte Valerie neugierig.
"Ja, John", erwiderte Valerie irritiert. "Sie wissen schon, der Typ hinter der Kaffeemaschine."
"Ich weiß, wer das ist", sagte die Kellnerin gedehnt. Sie sah Valerie noch immer mit großen Augen an. Dass jemand nach John fragte, schien für sie keinen Sinn zu ergeben. "Sie kennen ihn?" fragte sie schließlich neugierig.
"Flüchtig", erwiderte Valerie kühl. "Ist er nun da?"
"Natürlich nicht. Er arbeitet doch nie am Samstag."
"Ach so", Valerie nickte nachdenklich. Dann war es vielleicht doch keine Ausrede gewesen, dass er nicht zur Polizei mitkommen konnte. Vermutlich hatte er an seinem einzigen freien Tag etwas Anderes vor.
"Möchten Sie nun etwas trinken?" drängte das Mädchen.
Valerie stockte. Eigentlich hatte sie nur kurz mit John sprechen wollen, aber wenn sie jetzt wieder ging, würde es vermutlich Tratsch unter den Kellnern geben. Und sie wollte nicht, dass irgendwelche grundlose Spekulationen John zu Ohren kamen und ihm einen falschen Eindruck vermittelten. "Ich nehme einen Milchkaffee, bitte", sagte sie daher und die Kellnerin eilte davon.
Während sie ihren Kaffee trank, grübelte Valerie über das Interesse, dass sie John entgegenbrachte. War es Mitgefühl oder einfach nur Neugier, die sie antrieb?
Vermutlich ein wenig von beidem, entschied sie schließlich, gewürzt mit einer guten Prise von dem Wunsch nach etwas Abwechslung in ihrem Leben. Sie trank hastig ihren Kaffee aus und erhob sich. Die Grübelei brachte sie nicht weiter. Plötzlich sehnte sie sich nach den ganz alltäglichen Problemen des normalen Lebens. Sie sollte dringend ihre Mutter und dann ihre Freundin Linda anrufen.
Kapitel 3
Schreiend fuhr John aus dem Schlaf hoch. Er brauchte eine Weile, bis er wieder wusste, wo er überhaupt war, und wischte sich erschüttert über das Gesicht. Dann schlug er das dünne Laken, mit dem er sich zugedeckt hatte, zurück und tastete sich zum Kühlschrank. Er nahm ein paar Schlucke kalten Wassers und fühlte sich danach etwas besser. Ohne das Licht einzuschalten, wankte er zum Bett zurück und setzte sich hin. Er war todmüde. Aber er traute sich nicht, die Augen zu schließen, weil er wusste, dass dann die Bilder wiederkommen würden. Auch so schon spürte er sie in der Dunkelheit lauern, Gestalt für ihn annehmen und immer näher kommen.
Er vergrub das Gesicht in den Händen, aber es half nicht. Er konnte seinen Erinnerungen nicht entkommen, würde ihnen niemals entkommen können.
Nie würde er Inaras blasses Gesicht vergessen, ihren Schmerz, den er wie seinen eigenen gespürt hatte. Er wollte es ja auch gar nicht vergessen. Doch diesen furchtbaren Tag in seinen Träumen immer und immer wieder zu durchleben, war mehr, als er ertragen konnte. Mehr, als er hätte ertragen sollen. Es war falsch, es war alles so falsch.
Er erinnerte sich noch genau, wie er mit ihr gemeinsam in der Schwärze zu versinken begonnen hatte, wie er gewusst hatte, dass sie sterben würde, noch bevor die Ärzte die Hoffnung aufgegeben hatten. Er hatte Inaras Hand gehalten, sie aber nicht ansehen können, als er neben ihr auf der Liege gelegen und gespürt hatte, wie das Leben sie immer mehr verließ. Er hatte gedacht, er wäre bereit gewesen. Aber als er dann plötzlich die gähnende Leere gespürt hatte, die ihr Tod in seiner Seele hinterlassen hatte, hatte er vor Schmerz und vor Angst geschrieen. Der Angst davor, ohne sie leben zu müssen. Er hatte sich bereitwillig der Schwärze hingegeben, ohne an etwas Anderes denken zu können, als dass sein Leid bald aufhörte, dass er Inara nun folgen würde, dahin, wohin sie bereits vorausgegangen war.
Und dann hatte er
ihre
Stimme gehört. Die dünne, völlig verängstigte, hilflose Stimme, die nach ihm rief. Die ihn ans Leben gebunden hatte, wie die Nabelschnur ein Baby. Und er war zurückgekommen, weil sie zu verlassen noch unmöglicher gewesen war, als Inara gehen zu lassen.
John seufzte. Zu Beginn hatte er diesen Traum jede Nacht gehabt. Doch irgendwann, nach und nach, war er etwas verblasst, wenn
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