Seelenband
Händen.
Valerie spürte, wie er von Krämpfen geschüttelt wurde, und glitt schnell neben ihn. Sie schlang ihre Arme um ihn und zog ihn an sich. "Ist schon gut", flüsterte sie ihm beruhigend zu, während sie selbst mit ihren eigenen Tränen kämpfte. "Ist schon gut."
Lange Zeit saß sie nur da und wiegte ihn in ihren Armen, während er sich verzweifelt an sie klammerte. Sie strich ihm beruhigend über den Rücken und fragte sich, ob er seinen Schmerz wohl das erste Mal wirklich heraus ließ, ihn das erste Mal wirklich mit jemandem teilte. Sie lauschte seiner Verzweiflung und seiner Qual und plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie ihn trotz Allem beneidete. Sie beneidete ihn um die Liebe, die er tatsächlich kennen gelernt hatte. Die
wahre
Liebe, wie es so schön hieß, an die sie selbst gar nicht mehr geglaubt hatte. Es war schön zu wissen, dass es sie tatsächlich zumindest einmal gegeben hatte, irgendwo womöglich sogar noch immer gab. Sie dachte an Inara, an das beängstigend perfekte Bild, das John von ihr gezeichnet hatte. Hatte er sie nur so gesehen,
weil
er sie wirklich geliebt hatte, oder hatte er sie geliebt,
weil
sie so perfekt gewesen war? Valerie lächelte humorlos. Wenn eine Frau wirklich so einem Ideal entsprechen musste, um wahrhaft geliebt zu werden, hatte sie wohl schlechte Karten.
Sie sah ihn an, wie er in ihren Armen schluchzte, und spürte eine weitere Hoffnung zerplatzen. Bis zu diesem Augenblick war ihr nicht einmal bewusst gewesen, dass ein kleiner Teil ihres Verstandes tatsächlich an die entfernte Möglichkeit geglaubt hatte, dass aus ihr und John eines Tages doch etwas hätte werden können. Erst jetzt erkannte sie, wie absurd dieser Gedanke gewesen war. Niemals würde er seine perfekte Inara für jemanden wie sie vergessen können.
Irgendwann, Valerie hatte keine Ahnung, wie spät es schon war, schien John ruhiger zu werden. Der Griff seiner Hände um ihre Schultern wurde schwächer und als sie in sein Gesicht blickte, merkte sie, dass er in den Schlaf hinüber geglitten war.
Sie löste seine Hände von sich und brachte ihn mit sanftem Druck in eine liegende Position. Dann deckte sie ihn zu und schaute auf ihre Armbanduhr. Es war nach Mitternacht.
Sie gähnte und ging in das andere Ende des Zimmers, um sich ein Taxi zu rufen. Dann warf sie einen letzten Blick auf seine schlafende Gestalt und ging zur Tür hinaus, die mit einem leisen Klicken hinter ihr ins Schloss fiel.
Sie wusste, dass sie eigentlich direkt ins Bett gehen sollte, doch sie war nicht müde. Zu sehr hatte Johns Erzählung sie aufgekratzt, zu sehr sein Leiden sie mitgenommen. Zum ersten Mal hatte sie das Gefühl, ihn zumindest ansatzweise zu verstehen.
Gedankenlos warf sie die zwei Briefe, die sie in ihrem Briefkasten vorgefunden hatte, auf ihren Poststapel. Dabei fiel ihr auf, wie hoch er bereits geworden war. Sie hatte sich schon sehr lange nicht darum gekümmert. Lustlos nahm Valerie den Stapel an sich und ging ins Wohnzimmer herüber, um ihn zu sortieren.
Wie sie vermutet hatte, war das meiste nur Werbung, darunter ein paar Kreditkartenabrechnungen, also nichts, das weiter von Interesse wäre. Sie nahm einen weiteren Brief in die Hand und stutzte plötzlich. Der war von ihrer Uni. Was könnten die bloß von ihr wollen?
Hoffentlich erkennen sie mir jetzt nicht den Abschluss wieder ab, dachte sie zynisch, während sie den Umschlag öffnete. Oder sie wollen wieder eine Spende, war ihr zweiter Gedanke. Doch sie irrte sich, es war eine Einladung. Zu einem Ehemaligen-Treffen. Am kommenden Samstag.
Ist das nicht ein wenig kurzfristig? dachte Valerie ärgerlich, dann fiel ihr das Datum ins Auge. Es war drei Wochen her. Die Einladung lag schon seit drei Wochen in ihrem Posteingang.
Valerie fluchte und sah das Schreiben verärgert an. Sie würde da nicht hingehen, ausgeschlossen. Andererseits würde es sie schon interessieren, was aus den anderen geworden war. Sie musste ja nicht lange bleiben. Aber ohne Begleitung brauchte sie dort nicht aufzuschlagen. Wen also sollte sie fragen?
Christopher wäre bestimmt bereit, sie zu begleiten. Doch das wäre ihm gegenüber nicht fair, sie würde ihn nur ausnutzen. Außerdem würde ein solcher Abend aus einigen Treffen in der Cafeteria und einem einzigen echten Date eine Beziehung machen, und das wollte sie nun wirklich nicht. Wer sonst? Wer könnte sie sonst noch begleiten?
Sie ignorierte den einen Namen, der ihr beständig im Kopf umherschwirrte, bis ihr klar wurde, dass ansonsten
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